Johnny Cash: Bootleg Vol. 3 – Live Around The World
Da ist sie also, die lang erwartete Doppel-CD. Live-Aufnahmen von Johnny Cash, die aus den Jahren zwischen 1956 und 1979 stammen und zehn verschiedenen Shows entnommen sind. Wer jetzt denkt, „Na gut, halt irgendwelche unveröffentlichten Aufnahmen … interessiert die Sammler, sonst eher belanglos“, der geht mit dieser Veröffentlichung vielleicht zu sorglos um.
Es macht natürlich keinen Sinn, dem Leser zu erklären, wer Johnny Cash ist und war. Das sollte nun jeder wissen. Wichtig ist aber, sich daran zu erinnern, welchen Status er hatte, und zwar zu den Zeiten, aus denen die Aufnahmen stammen. Denn dieser Status änderte sich im Laufe der Jahre. Und die Aufnahmen auf diesen CDs belegen das, und noch viel mehr.
Wir beginnen in Dallas im Jahr 1956. Ein Newcomer, der gerade einen großen Hit herausgebracht hat, singt drei Songs seiner letzten beiden Singles. Und, welch historischer Moment, er kündigt den nächsten Song an: „Hier ist unser neuester Song … ich hoffe, er gefällt Euch … I Walk The Line“. Ich habe diese Ansage selbst erst überhört. Es ist unglaublich. Heute, 55 Jahre später, kennt diesen Song jeder. Der Song wurde so wichtig, dass selbst der Film nach diesem Song benannt wurde. Johnny Cash klingt hier so wie auf den alten Sun-Scheiben jung, dynamisch, hungrig … und bei den Ansagen fast ein bischen schüchtern.
Dann führt uns der Weg ins Jahr 1962. Johnny Cash war ein etablierter Star. Deutlich selbstsicherer, ein bischen durchgeknallt (er war in dieser Zeit schon abhängig von den Tabletten), und repertoiremäßig schon Richtung Folk orientiert, zeigen ihn diese Aufnahmen zwar gereifter, aber noch nicht da, wo er später hinkam. Weniger fokussiert, möchte man meinen. Und man hört deutlich, dass aus den Tennessee Two inzwischen die Tennessee Three geworden waren. Unüberhörbar ist aber, dass dem Publikum dieser Johnny Cash gefällt. Unüberhörbar ist aber auch, dass der Sound dieser Aufnahmen nicht optimal ist. Das gilt für viele der auf dieser CD vertretenen Live-Dokumente und hat seinen Grund natürlich in der damals noch nicht so weit entwickelten Technik. Allerdings wurde wohl viel an dem Material gearbeitet, um es in einer vernünftigen Qualität anbieten zu können. Und das ist auch gelungen.
Die nächste Station führt uns zum renommierten Newport Folk Festival. Angesagt von Pete Seeger, einer führenden Figur der damals in vollem Gange befindlichen Folk-Bewegung, präsentiert er sich hier mit einer Mischung aus Folk und Country. Es ist interessant, diese Aufnahmen und seinen Auftritt aus heutiger Sicht zu betrachten. Das Folk-Publikum beklatscht die Folk orientierten Songs mehr als z.B. Folsom Prison Blues, aber wir bewegen uns eben auch in einer Zeit vor den berühmten Gefängnisalben. Es ist schwer, sich das heute vorzustellen. Bemerkenswert an diesem Konzert ist der Bob Dylan-Song „Don’t Think Twice It’s Alright“. Johnny Cash und Bob Dylan waren seinerzeit in ständigem Briefkontakt, und Bob Dylan war bei diesem Konzert vor Ort. Und mit „Keep On The Sunny Side“ sieht man hier den wachsenden Einfluß der Carter Family auf Johnny Cash, denn Mother Maybelle & The Carter Sisters waren zu diesem Zeitpunkt schon Teil der Johnny Cash Show, und die Romanze mit June Carter war in voller Blüte.
Dann kommt einer der mit Spannung erwarteten Abschnitte dieser Doppel-CD, die Aufnahmen aus Long Binh, Vietnam aus dem Januar 1969. Johnny Cash war jetzt ein riesengroßer Star, dank der LP „At Folsom Prison“, und er war mit June Carter verheiratet. Und Luther Perkins war tot und musste durch Bob Wootton ersetzt werden. Dazu findet man eine hungrige Meute von US Soldaten, und man kann sich vorstellen, was da los war. Die Soldaten feierten Johnny Cash. Eigentlich war Johnny Cash viel zu krank, um überhaupt aufzutreten, aber auch eine Lungenentzündung konnte ihn nicht davon abhalten, für die Soldaten an diesem Ort in dieser Zeit zu singen. Schwach und kraftlos ist seine Stimme, aber man hört den Willen und die Überzeugung deutlich. Viel kann man heute über diesen Auftritt lesen. Man hatte ihm vorgeworfen, den Vietnamkrieg zu unterstützen, durch diese kurze Tournee. Johnny Cash hat das immer bestritten. Für „unsere Jungs“ hätte er gespielt, hat er immer gesagt. Das Bild von der „Taube mit Klauen“ kommt einem in den Kopf, von dem er auf dem Live-Album aus dem Madison Square Garden erzählt, das aus der gleichen Zeit stammt. Ich finde aber, man sollte diese Musikdokumente nicht zu sehr politisieren.
Denn auch der nächste Stop auf der Reise durch die Zeit und um die Welt führt uns mitten hinein in die Politik. Der legendäre Auftritt im Weißen Haus am 17. April 1970 ist hier mit 16 Songs und einer Begrüßung durch Präsident Nixon festgehalten. In der Begrüßung spricht der Präsident zunächst über die Apollo 13 Mission, um dann zum Konzert und Johnny Cash überzuleiten. Kein Experte für dessen Musik sei er, habe er sich doch die falschen Songs gewünscht. Johnny Cash hatte sich damals geweigert, „Okie From Muskogee“ und „Welfare Cadillac“ zu singen. „Er fährt einen Cadillac, aber er möchte nicht über einen Cadillac singen heute Abend“, sagt der Präsident. Dafür gibt es dann mit “ A Boy Named Sue“ als zweitem Song den dezenten Hinweis darauf, dass man diesen großen Hit aus dem Vorjahr hätte kennen können. Dann spielt er ein ausgedehntes „Ride This Train“ Segment und erzählt von seiner Jugend, und Geschichten, die ihn bewegen. Und dann landet er in der Aktualität und spielt „Jesus Was A Carpenter“ und „What Is Truth“, mit aller Selbstsicherheit, die man von ihm kannte. Und vor „Peace In The Valley“ weist er darauf hin, dass er froh wäre, wenn „der Krieg schnell beendet werden könnte, vielleicht sogar früher, als Sie sich das wünschen, Herr Präsident!“ Dann gibt es ein großartiges Gospelsegment, unterstützt von der gesamten Show, mit der Carter Family, den Statler Brothers und Carl Perkins.
Die nächsten Songs entstammen dem Konzert im Osteraker Gefängnis in Schweden. Das Konzert wurde inzwischen komplett auf CD veröffentlicht, also erübrigt es sich, hier darüber zu viele Worte zu verlieren. Ein Dokument aus einer Zeit, als Gefängnisinsassen in Schweden in den Genuß kamen, einen der größten Stars dieser Zeit sehen zu können.
Die letzten vier Stops der Reise bringen uns nur kurze Momentaufnahmen, und sagen doch so viel aus. Von einer Zusammenkunft der Musikindustrie in Nashville für sein Label CBS über den Carter Fold in Hiltons, Virginia, die Heimatbühne der Carter Family, das Wheeling Jamboree in Wheeling, West Virginia, und schließlich das legendäre Exit Inn in Nashville. Alle diese Stationen zeigen uns weitere Momentaufnahmen. Bemerkenswert, für CBS spielt Johnny Cash „City Of New Orleans“, im Carter Fold die patriotische Hymne „Ragged Old Flag“ und seine damals aktuelle Single „One Piece At A Time“. In Wheeling folgt eine Rückbesinnung auf die Tage bei Sun Records, mit drei alten Songs aus dieser Zeit. Und im Exit Inn dann wieder die aktuelle Single, jetzt „(Ghost) Riders In The Sky“, und der Billy Joe Shaver Song „I’m Just An Old Chunk Of Coal“.
Fazit: Eine großartige Zeitreise durch die Karriere von Johnny Cash, die uns aufzeigt, wie sich Sound, Songs, Wertigkeit des Künstlers und schlußendlich auch der Künstler selbst verändert haben über die Jahrzehnte. Wir, die Hörer, können verfolgen, wie aus dem jungen Johnny Cash der Johnny Cash wurde, den dann die ganze Welt kannte. Und für Fans ist diese Doppel-CD eine wahre Fundgrube, mit unzähligen unveröffentlichten Aufnahmen und einem reich bebilderten Booklet mit allen Infos und einem lesenswerten Text. Ich verkneife mir jetzt, „Daumen hoch“ zu sagen. Ich würde nämlich zwei Daumen hochhalten.
Trackliste: (CD 1)
01. So Doggone Lonesome |
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Trackliste: (CD 2)
01. Introduction – President Richard M. Nixon |