Der „Jimi Hendrix des Bluegrass“: Tony Rice
Vor fünf Jahren starb mit dem Gitarristen einer der wichtigsten Instrumentalisten des Bluegrass.
Tony Rice. Bildrechte: Künstler (Promo)
Auch wenn Tony Rice „Freeborn Man“ nicht geschrieben hat, passt dieser Song bestens zu ihm. Der Bluegrass-Ausnahme-Gitarrist Tony Rice wurde 1951 in Danville, Virginia geboren, wuchs aber in Los Angeles auf. Sein Vater spielte Bluegrass-Musik und so war es geradezu natürlich, dass er das Gitarrespielen erlernte und zunächst gemeinsam mit seinem Bruder in der Band des Vaters spielte.
1970 ging Rice nach Kentucky und schloss sich bald J.D. Crowes Band The New South an. In der Besetzung J.D. Crowe Banjo, Jerry Douglas Dobro, Tony Rice Gitarre und Leadgesang, Ricky Skaggs Mandoline & zweite Stimme und Bobby Slone am Bass spielten sie eine Zeit lang an sechs Abenden die Woche einen regelmäßigen Gig in einem Holiday Inn in Lexington Kentucky. Vor einem Bier trinkenden Publikum aus College Kids – bei Bluegrass Shows wurde normalerweise nicht getrunken – testeten sie Ihre musikalischen Grenzen aus und man kann sagen, dass diese Band damals das transformierte, was bis dahin Bluegrass-Musik gewesen war. Das 1975 erschienene Album J.D. Crowe & The New South ist daher bis heute ein absolutes Kultalbum in der Bluegrass-Szene. Wenn man so will, markiert es die Geburt der zweiten Bluegrass-Generation und den Beginn von Progressive Bluegrass und Newgrass.
Ein früher, bedeutender Einfluss von Tony Rice waren die Kentucky Colonels, eine Bluegrassband aus Burbank, Kalifornien mit den White Brüdern Clarence und Roland. Besonders Gitarrist Clarence White beeinflusste Rice neben Ry Cooder und Chris Hillman stark. Clarence White hat heute Legendenstatus, was auch damit zu tun hat, dass er als Nachfolger von Gram Parsons zur letzten Besetzung der Byrds gehörte. Countrymusik Gitarren-Enthusiasten ist er auch als Erfinder bzw. Miterfinder des B-Benders bekannt. Gemeinsam mit Gram Parsons baute er seine Fender Telecaster – später Frankenstein genannt – so um, dass die Stimmung bzw. Tonhöhe der H-Saite ohne ins Spiel einzugreifen um einen ganzen Ton verändert werden konnte. Das bedeutet, dass ein Gitarrist mit Hilfe dieser Technik Licks spielen kann, die dem Sound einer Pedal-Steel nahekommen, da man wie bei der Pedal-Steel während des Spiels ebenfalls die Tonhöhe der Saiten verändern kann. Eine Spielart, wie sie Clarence White mit den Byrds z.B. bei seinem Stück Nashville West, einem Outtake von den Sessions zum Byrds Album Dr. Byrds And Mr. Hyde von 1969, gekonnt demonstriert.
Kurz nach dem Ende der Byrds 1973 kam Clarence White tragisch ums Leben, als er nach einem Bluegrass-Gig beim Verladen der Instrumente von einem betrunkenen Autofahrer überfahren wurde. Viele Jahre später kam Marty Stuart in den Besitz von Frankenstein. Und so wird Clarence Whites B-Bender auch heute noch regelmäßig gespielt.
Clarence White hatte aber auch eine besondere Akustikgitarre: eine 1935er Martin D-28, die er 1959 mit seinem Bruder völlig runtergekommen und extrem reparaturbedürftig in einem Musikgeschäft entdeckt und dann für lediglich 25 Dollar erstanden hatte. Zweifellos war damals niemandem klar, dass diese Gitarre mal zu so etwas wie dem Heiligen Gral der Bluegrass-Gitarren werden würde. White spielte die Gitarre nach einigen Reparaturen zwar, aber sie war über Jahre nicht im besten Zustand, so dass sie bisweilen recht schwer zu spielen war. Einmal war er sogar so frustriert darüber, dass er mit einem Luftgewehr auf das Instrument schoss. Ein anderes Mal überfuhr er die Gitarre aus Versehen nach einem Auftritt mit seinem Van. Ja, dieser Gitarre blieb scheinbar nichts erspart. Aber White war sich sicher, dass sie nach diesem Unfall besser klang. 1965 verkaufte er sie trotzdem an einen Bekannten aus der kalifornischen Bluegrass-Szene, weil er das Geld brauchte. Und hier kommt Tony Rice wieder ins Spiel. Über Umwege erfuhr er nach Whites Tod, wer die Gitarre haben müsste, und kaufte sie so 1975 einem Schnapsladenbesitzer für 550 Dollar ab.
Auf seinem 1973er Album „Guitar“ hatte Tony Rice seine Version des Bluegrass-Klassikers Salt Creek aufgenommen. Apropos Guitar, und apropos Salt Creek, an dieser Stelle ist die Geschichte von Tony Rices Gitarre noch nicht beendet. Das größte Abenteuer wartete noch auf das geschundene Saiteninstrument:
20 Jahre später, im März 1993, lebte Rice gemeinsam mit seiner Frau in Crystal River, Florida. Sie wohnten direkt am Fluss und so kam es, dass ein tropischer Sturm so plötzlich über die Golfküste hereinbrach und mit Wucht Wasser in den Fluss drückte, dass das Ehepaar des nachts plötzlich von Rettungskräften aus dem Schlaf gerissen wurde. Sie mussten ihr Zuhause auf der Stelle verlassen und ihnen wurde nicht gestattet, auch nur die kleinste Kleinigkeit mitzunehmen. Als die Sonne einige Stunden später aufgegangen war, flehte Rice einen Nachbarn an, der die Möglichkeit hatte, das überflutete Haus noch einmal zu betreten, doch bitte die Gitarre zu bergen. Die Gitarre war für gut zwei Stunden komplett unter Wasser gewesen und das Gitarren-Case war nicht wasserdicht. So hatte sich das Holz der Gitarre ganz mit dem Wasser vollgesogen. Es dauerte und brauchte viel Hilfe von Experten, bis die Gitarre schließlich nach ungefähr fünf Jahren wieder so klang wie vor ihrem Vollbad.
Im Laufe seiner Karriere spielte Tony Rice in zahlreichen Bands und Konstellationen. Er machte Sessions für Plattenaufnahmen, tourte und veröffentlichte in regelmäßigen Abständen Soloplatten und Alben mit der Tony Rice Unit, spielte mit Leuten wie Jerry Garcia oder Alison Krauss, gewann einen Grammy und andere Preise, bis er sich schließlich aus Krankheitsgründen zunehmend zurückzog.
1994 wurde bei ihm spasmodische Dysphonie diagnostiziert und er konnte nicht mehr live singen. Spasmodische Dysphonie ist eine seltene neurologische Erkrankung, die bisweilen sogar das Sprechen unmöglich machen kann. Auch Texas Honky Tonker Johnny Bush litt einst unter dieser Krankheit. 2014 kam bei Rice auch noch eine Epicondylitis dazu, so dass er nun nur noch unter größten Schmerzen Gitarre spielen konnte.
Vor Tony Rice spielten Bluegrass-Gitarristen anders. Nach ihm sind alle irgendwie von ihm beeinflusst. Man kann seinen Einfluss nur mit dem eines Jimi Hendrix oder Eddie Van Halen für die Rock-Gitarre vergleichen. Gewissermaßen war Tony Rice für die Bluegrass-Gitarre das, was Earl Scruggs für das Banjo war. Er ist ein bedeutender Sänger und sicher der einflussreichste Gitarrist in der Geschichte der Bluegrass-Musik. In seinem Flatpicking und aggressiven Rhythmusspiel vereinen sich die Wucht von Jimmy Martin und Del McCoury mit der Raffinesse und Grazie von Clarence White.
Am Weihnachtsmorgen 2020 starb Tony Rice im Alter von 69 Jahren. Man sagt, er habe sich gerade einen Kaffee gemacht.

