Jesse Winchester wurde nur 69 Jahre alt
Seinen schwersten Kampf hat der sensible, so gefühlvolle Songschreiber und Sänger leider verloren – am 11. April verstarb Jesse Winchester in seinem Haus in Charlottesville, Virginia. Bereits im Jahre 2011 war er mit der ärztlichen Diagnose „Speiseröhrenkrebs“ konfrontiert worden. Nach Monaten intensiver Therapie gaben die Ärzte ihm grünes Licht, seine Arbeit wieder aufnehmen und wieder auf Tournee gehen zu dürfen.
Ein scheinbarer, ein trügerischer Sieg über den heimtückischen Krebs, der ihn erneut und mit voller Wucht heimsuchte. Anfang April 2014 bestand keine Hoffnung mehr auf ein Überleben, Jesse Winchester kehrte zum Sterben in sein Haus zurück, wo er wenige Tage später für immer einschlief. Als Todesursache wurde Blasenkrebs angegeben.
Ihm ging es wie vielen guten Songschreibern, man kennt seine Werke besser als den Sänger Jesse Winchester. Seine Lieder sind mit Sicherheit jedem Countryfan – und manch anderem auch, schon begegnet. Namhafte Interpreten aus verschiedenen Musikrichtungen gehörten zu seinen Kunden.
Winchesters Markenzeichen; fein getextete, intelligente Lieder, mal einfach vom Gefühl geleitet, mal satirisch eingefärbt aber eigentlich nie Dutzendware. Wer immer noch nichts mit seinem Namen anzufangen weiß, dem helfen vielleicht einige Beispiele auf die Sprünge. Jesse Winchester schrieb u.a. „You Remember Me“ (Reba McEntire), „Brand New Tennessee Waltz“ (in vielen Versionen), „Defying Gravity“ (Emmylou Harris, Jimmy Buffett u.a), „Just Like New“ (Wynonna), „My Songbird“ (The McCarters, Emmylou Harris), „Biloxi“ (Kenny Price), „Yankee Lady“ (Stoney Edwards), „Evil Angel“ (Ed Bruce), „Mississippi You’re On My Mind“ (Jerry Jeff Walker), „Just Cause I’m In Love With You“ (Don Williams), „Love Is Fair“ (Barbara Mandrell), „Well-A-Wiggy“ (Weather Girls), „Wintery Feeling“ (Anne Murray), „Isn’t That So“ (Wilson Pickett). Eine Liste, die man noch um einiges fortsetzen könnte. Wer solche Lieder zu schreiben in der Lage ist, muß ein ungewöhnlicher Mensch sein, denn in jedem Song steckt auch etwas von seinem „Erfinder“. Mit üblichen Maßstäben läßt Winchester sich nicht messen. Ein Eigenbrötler im positiven Sinn, einer, der seinen eigenen Weg ging, gradlinig, schnörkellos.
In Bossier City, der Zwillingsstadt von Shreveport, Louisiana geboren, wanderte Winchester 1967 nach Kanada aus. Das war wie eine Flucht, denn so konnte er dem Soldatendasein in Vietnam entgehen. Damals gab es diese Möglichkeit – allerdings auch kein Zurück mehr in die Heimat. Das änderte sich erst als Präsident Jimmy Carter 1977 die Heimkehr durch einen allgemeinen Gnadenakt ermöglichte. Doch Winchester, ein ruhiger, besonnener Mann mit klaren Vorstellungen, wollte schon bei seinem Weggang einen Schnitt machen und ein neues Leben beginnen. Perspektiven gab es für ihn kaum. Einen Job hatte er nicht in Aussicht und erst recht keine Ahnung, dass er Songschreiber werden würde. Die Musik allerdings begleitete ihn immer. Das war wichtig, denn in Montreal, wo er sich niederließ, sprach kaum jemand Englisch. Rhythmus-Gitarre spielte Winchester, in Cafes saß er auch am Piano.
Bald erkannte er, dass die Menschen dort gern eigenes Material hören wollten. Winchester handelte und begann mit dem Schreiben von Liedern. Innerhalb weniger Jahre entstand ein ansehnlicher Katalog, der auch schon „Biloxi“, „Brand New Tennessee Waltz“ und „Yankee Lady“ enthielt. Geprägt waren seine Werke von schönen, eingängigen Melodien, plastischen, greifbaren Texten, manchmal von unter die Haut gehender Melancholie. Da konnte auf Dauer die Plattenbranche nicht untätig bleiben. 1970 gab ihm Robbie Robertson (The Band) die Möglichkeit zur ersten eigenen LP. Es folgten weitere Alben auf dem Bearsville Label (die wurden von Stony Plain in Edmonton auf CD wieder veröffentlicht). Irgendwie aber war es nie das Wahre. Winchester wurde unzufrieden mit der Art, wie man produzieren mußte und machte sich auf Platte rar. „Es wurde auch kein Druck auf mich ausgeübt, eine Platte aufzunehmen. Ich mache aber meist ein Album nur, wenn der Druck da ist. Man sagt mir immer, ich solle wieder mal ein Album aufnehmen. Aber dazu habe ich nicht das Bedürfnis. Ich denke, meine Musik wird nie ein kommerzieller Renner“, bekennt er. Eine seiner Stärken liegt in der Fähigkeit, sich selbst und seine Möglichkeiten realistisch einzuschätzen. Es überläßt es anderen, mit seinen Songs Erfolg als Sänger zu haben. In den Liedern kommen die verschiedensten Einflüsse des Südens immer stark zum Ausdruck.
Winchester ist von Country, R&B, Blues und Folk gleichermaßen geprägt worden. Auch in Europa schnupperte er Erfahrungen, noch ehe er sich in der Gegend von Montreal niederließ, naturalisiert wurde, eine Familie gründete und Wurzeln schlug – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Dem französisch sprechenden Teil Kanadas blieb Winchester lange treu, er lebte im ländlichen Toronto. Das ist nicht so sehr weit weg von der Grenze zu den USA, so dass er zwar abgeschottet und in selbstgewählter Isolation von Big Business aber er war immer nah genug dran um nötige Kontakte zu pflegen. Deshalb blieb der Autor Jesse Winchester für Nashville und die dort produzierenden Interpreten immer interessant. „Meine Songs sind für Jedermann, der sich dafür interessiert, zu haben. Ich halte sie nicht für mich zurück. Nashville ist schließlich so etwas wie eine Börse für Songs.“ Und an der wird Winchester immer noch hoch gehandelt. Irgendwie scheint sich der Kreis zu schließen. 1978 war Winchester bei einer Eagles-Tournee in Kanada im Vorprogramm. Die Eagles trennten sich und kamen unlängst wieder zusammen. Neue Lieder schrieb der Neo-Kanadier bis in die Gegenwart. Dafür brauchte er das zurückgezogene, beschauliche Ambiente, die Distanz zur Hektik des Nashville-Alltags. Es konnte sein, dass zwischen seinem letzten und vorletzten Album gut 10 Jahre liegen. Nach „Humour Me“ tauchte Winchester als Sänger komplett ab. „Ich war fertig, fand im Alkohol einen zu guten Freund und wollte nur noch schreiben. Ihr habt solche Geschichten oft gehört, ich habe sie selbst durchlebt. Mein Halt war das Songschreiben, es war das einzige, womit ich wirklich Geld verdiente. Was ich durch Schallplatten oder Auftritte bekam, war eigentlich nicht der Mühe wert“, resümierte er kritisch. Andere, vor allem in Nashville, griffen fleißig weiter zu, wenn Winchester Songs zur Debatte standen. Insbesondere Reba McEntire und Wynonna Judd sorgten dafür, dass Winchester nicht darben mußte. So gesehen hatten seine eigenen Alben doch ihren Sinn, denn“ … auch wenn sie sich nicht sonderlich gut verkauften, waren sie doch gefragte Demos.“
Der Gedanke mag Jesse Winchester schließlich bewogen haben, doch wieder ins Studio zu gehen. Entstanden ist dabei das bravouröse Album „Gentleman Of Leisure“ (Sugar Hill SH 1062), das am 22. Juni 1999 ins Rennen geschickt wurde. Eigenwillig wie gehabt, voller Winchester Originale. Musikalisch verblüffte er einmal mehr, scheinbar mühelos verbindet er dabei R&B mit Folk, Rock und Gospel mit Country. Da „grooved“ es von „Club Manhattan“ bis „I Wave Bye Bye“, dass die Ohren unter dem Kopfhörer sich wohlig erwärmen. 13 Songs wie sie unterschiedlicher nicht sein können mit unüberhörbaren Einflüssen von Memphis bis Dobro-Genius Jerry Douglas (hier Produzent). Dazu passen seine „Begleiter“ im Studio, denn Künstler wie Vince Gill, Steve Cropper, The Fairfield Four, Mike Henderson, Jonell Mosser, Byron House, John Gardner und John Cowan sind nicht Irgendwer. Den einen oder anderen Song kennt man bereits, wie „Evil Angel“ (u.a. von Ed Bruce) oder „Tell Me Why“ mit Wynonna. Die Arbeit mit Jerry Douglas und den Musikern im Studio hatte ihm viel Spaß bereitet. Man kann da nur den überschwenglichen Worten eines kanadischen Kritikers beipflichten, der damals schrieb: „Der Bursche zeichnet atemberaubende Bilder mit nur einigen wenigen Worten.“
Ungefähr zeitgleich war Jesse Winchester damals aus Kanada zurückgekehrt in seine amerikanische Heimat und hatte sich in Virginia angesiedelt, wo er bis zu seinem Tod mit seiner Familie lebte. Nachdem 2001 „Live From Mountain Stage“ und 2005 das Album „Live“ erschienen waren, brachte Winchester 2009 noch einmal ein Studio Album heraus: „Love Filling Station“. Dem Vernehmen nach war er aber einige Monate vor seinem Tod wieder im Studio gewesen – das entsprechende Album soll im Sommer mit dem Titel „A Reasonable Amount Of Trouble“ veröffentlicht werden. Einige Kollegen wie Vince Gill, Jimmy Buffett, James Taylor und Lucinda Williams erwiesen Jesse Winchester noch zu Lebzeiten ihre Referenz durch ihr Mitwirken bei dem Tribute Album „Quiet About It“ aus dem Spätsommer 2012.
Auch wenn Jesse Winchester nie den Status eines Stars erreichte und im Grunde auch nicht erreichen wollte, wird er wegen seiner stimmungsvollen und aussagestarken Songs in guter Erinnerung bleiben.