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Justin Townes Earle – What Do You Do When You’re Lonesome?

Mehr als fünf Jahre sind nach dem Tod des Ausnahme-Singer-Songwriters vergangen. Sein spannendes Werk lädt seitdem kontinuierlich zum Entdecken und Gedenken ein.

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Justin Townes Earle: 1982 - 2020 Justin Townes Earle: 1982 - 2020. Bildrechte: New West Records

Den Folksong „John Henry“, ein Traditional über den amerikanischen Volkshelden gleichen Namens, haben nicht nur viele Country-Musiker wie Johnny Cash, Hank Thompson oder Bill Monroe interpretiert, sondern auch Leute wie Bruce Springsteen oder Van Morrison.

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John Henry war ein schwarzer Arbeiter, der beim Eisenbahnbau gearbeitet haben soll. Es wird erzählt, dass eines Tages eine dampfgetriebene Maschine auf der Baustelle eingesetzt werden sollte. Sie sollte die Eisennägel viel schneller in die Schwellen treiben, als es einem Arbeiter möglich gewesen wäre. John Henry soll sich dagegen aufgelehnt haben und die Maschine bzw. die Eisenbahngesellschaft herausgefordert haben. Er soll dann in einem langen Wettstreit tatsächlich gegen die Maschine gewonnen haben, aber wenig später an Erschöpfung gestorben sein.

Eine weitere Ballade aus jener Zeit ist der Song „Nine Pound Hammer“ oder „Take This Hammer“, wie er auch heißt. In einigen Versionen dieses Stücks wird ein direkter Bezug zum John Henry Song hergestellt, wenn es heißt: „This old hammer killed John Henry, but it can’t kill me.”

2009 veröffentlichte Justin Towns Earle einen Song, der zwar im Gewand des traditionellen John Henry Songs daherkommt, aber beide Songs kongenial zusammenführt. In der Synthese beider Songs – angereichert mit einigen neuen Zeilen – kreiert Earle einen postmodernen Protestsong für die gebeutelte amerikanische Working Class von heute: „They Killed John Henry“.

Am 23. August 2020 erschütterte die Nachricht von Justin Townes Earles Tod die Musikwelt. Mit Justins Vergangenheit als Drogenabhängiger bereits im Teenageralter wurde schnell über seinen frühen und plötzlichen Tod mit nur 38 Jahren spekuliert. Später wurde bekannt, dass er kurz zuvor mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus behandelt worden war. Offensichtlich war jedoch, dass es zuvor bei Justins letzten Auftritten im März des Jahres direkt vor dem Shutdown, deutliche Anzeichen dafür gegeben hatte, dass er wieder trinken und Drogen nehmen würde.

Justins Musik war stark von den ur-amerikanischen Musik-Genres Traditional Country, Old Time, Soul und besonders Blues geprägt. Sein erstes Album von 2008 ist ein richtiges old school Hillbilly und Honky Tonk Album. In den Alben danach bewegte er sich dann lockerer zwischen den Genres und fand seinen ganz eigenen Stil, der vor allem von seinem außergewöhnlich treibenden, perkussiven Gitarrenspiel geprägt war.

Earles absolute Lieblingssängerin war Billie Holiday. Neben seinem Namenspatron Townes Van Zandt waren Hank Williams, sein Vater Steve Earle und Leadbelly große Einflüsse auf seine Musik. Auf seine sehr schwierige Kinder- und Jugendzeit und die daraus resultierenden seelischen Nöte kam Justin in zahlreichen Interviews immer wieder zu sprechen, und natürlich sang er auch ganz offensichtlich darüber.

Die ständige Bewegung des Tourens war für Justin vielleicht die einzige Möglichkeit, sein Leben in den Griff zu bekommen. In einem seiner letzten Interviews sagte er, dass er schlecht klarkomme im normalen Leben: “I know how to live on the road, but what I am bad at: Get me off the road for a week, two weeks – I wanna beat my head … I don’t know how it works … I am touring since I was fifteen! I mean what else do I know? … I do not wanna die at home. I wanna die in a tourbus – years from now. But I do not wanna die sitting on my damn couch.”

Justin beendete seine Shows oft mit dem Song „Ain’t Glad I’m Leaving“. Er singt hier: “I keep it on the move. It’s just my way. I ain’t trying to be mean. If you ain’t glad I’m leaving Girl you know you oughta be.”

Letzte Stücke in Konzerten werden in der Regel ganz bewusst als solche eingesetzt. So kann das Finale etwa besonders laut oder besonders leise ausfallen. Wenn hierbei nicht die größten Hits des Künstlers zum Einsatz kommen, die dann die Show ihrem Höhepunkt zuführen, werden zum Ende genauso häufig Songs eingesetzt, die den Abend stimmungsvoll ausklingen lassen und das Publikum dabei ganz besonders zu berühren vermögen. Dieses Vorgehen ist nicht nur Liveshows vorbehalten. Auch Alben folgen häufig dieser Dramaturgie.

Talking To Myself, das herzergreifend traurige letzte Stück auf Justin Townes Earles achtem und letzten Album The Saint Of Lost Causes macht da keine Ausnahme. Justin singt hier: „I’m in a lot of pain and I need some help. I don’t dare tell nobody else. These are things I say only when I’m talking to myself.“

Ganz persönlich, ohne Maskerade und absolut offen singt er davon, dass Alkohol und Drogen nicht mehr wirken, er sich völlig zurückzieht und sogar sein eigenes Kind abwehrt, das er zu lieben versuchte und selbst dabei versagte.

Bei der Vinyl-Ausgabe des Albums befindet sich dieses Stück am Ende der dritten Seite. Seite vier hingegen ist gänzlich leer. Statt Musik ziert diese Seite nur das Coverbild – ein stilisiertes Heiligenbild des Heiligen Judas, des Heiligen der Hoffnungslosen. Des Heiligen derer, die nirgendwo mehr Hilfe zu erwarten haben. Derjenigen, die ganz verzweifelt, und ohne Hoffnung sind.

Als die Platte 2019 erschien, wusste niemand, dass dieses Album Justins letztes sein würde, aber im Nachhinein wirkt alles daran wie ein vorweggenommener Abschied. Heute ist ziemlich sicher, dass Justins Tod kein Suizid war. Es war vielmehr ein Unfall, bei dem Drogen und Medikamente eine Rolle spielten und es versehentlich zu einer Überdosis von Fentanyl kam. Aber wie Justin oft gesagt hatte, war es überhaupt schon ein Wunder gewesen, dass er seine Zwanziger überlebt hatte.

Am 4. Januar 2021, dem Tag, der Justin Townes Earles 39. Geburtstag gewesen wäre, erschien „JT“, ein Tribute-Album von Justins Vater Steve Earle. Auf „JT“ – nie wurde Justin von seiner Familie anders genannt – versammelt Steve Earle ausschließlich Songs seines Sohnes, ergänzt um „Last Words“, einen eigenen Song am Ende der Platte. Earle sagt, dass dies sein einziger Song sei, bei dem jedes Wort wahr ist. Und so erzählt „Last Words“ vom letzten gemeinsamen Gespräch zwischen Vater und Sohn, am Tag von Justins Tod. Für den Zuhörer schon fast zu direkt, schildert Earle dabei in klarer schlichter Sprache ungeschönt seinen tiefen, unermesslichen Schmerz.

Alle Einnahmen des Benefiz-Albums sollen der zukünftigen Unterstützung von Justins kleiner Tochter dienen. Aber das ist natürlich nur eine Seite des Projekts. Natürlich ist „JT“ ein Trauer-Album. Unvorstellbar, wie es sein muss, nicht einmal ein halbes Jahr nach dem Tod des eigenen Kindes dessen Songs aufzunehmen, aber wie Steve Earle es schon in den Linernotes sagt: „For better or worse, right or wrong, I loved Justin Townes Earle more than anything else on this earth. That being said, I made this record, like every other record I’ve ever made… for me. It was the only way I knew to say goodbye.“

Schon zweimal zuvor hatte Earle reine Coveralben herausgebracht – 2009 für seinen Freund Townes Van Zandt und zehn Jahre später für seinen Mentor Guy Clark. Aber der eigene Sohn ist sicher ein anderes Kaliber. Fast wirkt es so, als ob Steve Earle mit Hilfe von Justins Songs dessen Lebensgeschichte skizzieren möchte.

Die Platte beginnt mit Justins frühem Song „I don‘t care“. Dieser erzählt noch von einem möglichen Ausweg: Etwas Geld zusammenkratzen und einfach abhauen und irgendwo ohne Drogen von vorne anfangen. Doch das gelingt leider nicht und alles läuft dann unausweichlich zum Ende des Albums auf den verhängnisvollen letzten Song „Harlem River Blues“ zu, in dem es heißt: „Lord, I’m goin‘ uptown to the Harlem River to drown. Dirty water gonna cover me over. And I’m not gonna make a sound.“ Und dann: „Troubled days are behind me now […] Tell my mama I love her, tell my father I tried. Give my money to my baby to spend.“

Ja, fast wie ein Abschiedsbrief mit Testament – so ist die ganze Geschichte dieses Albums bereits in Justins Hit von 2010 enthalten.

Und logischerweise liegt eine große Schwere auf diesem Album. Besonders auffällig ist dies bei Justins „Bruce-Springsteen-Song“ „Champagne Corolla“, den auch wunderbar die Beach Boys in den 60er Jahren hätten covern können. In der Version des Vaters bewegt sich der Toyota jedoch eher beladen und träge in die Nacht.

Der erste Song hingegen – Steve Earles Cover von „I Don’t Care“ von Justins erster EP „Yuma“ – ist mit Abstand das unbeschwerteste Stück des Albums. Dieser klingt wie der Versuch, mit Hilfe des Songs die Zeit zurückzudrehen: sich beim Singen in eine Zeitmaschine zu begeben, um Justin in den Bus nach irgendwo steigen sehen, der dann dem Auge entschwindet, einem glücklichen Leben, einem Leben ohne Drogen entgegen.

Im November 2023 wurde anlässlich des Record Store Days ein Konzertmitschnitt Justins von 2015 wiederveröffentlicht. Im September 2014 spielte Justin mit seiner Band im Plattenladen Grimey’s in East Nashville ein tolles Konzert. Fast zeitgleich wurde auch Justins Debut EP „Yuma“ wiederveröffentlicht. Diese Vinylausgaben richteten sich in erster Linie an Fans und Plattensammler.

Dabei blieb es nicht, denn im August 2024 erschien schließlich „ALL IN: Unreleased & Rarities (The New West Years)“. Auch diese Veröffentlichung richtet sich in erster Linie an Fans, da hier neben Demoaufnahmen z.B. Coverversionen bekannterer Songs anderer Künstler vertreten sind, die bereits auf Tribute Alben eben für diese Künstler (Springsteen, Prine) veröffentlicht wurden. Auch findet sich hier Paul Simons „Graceland“, das zuvor als B-Seite veröffentlicht worden war. Besonders schön sind die bis dato unveröffentlichten Coverversionen von Fleetwood Macs „Dreams“ und des Ike Turner Klassikers „Rocket 88“.

Die Zusammenstellung dieser Doppel-LP und die anderen Veröffentlichungen lassen vermuten, dass nicht mehr viele unentdeckte Schätze in den Archiven von Justins ehemaligen Plattenfirmen schlummern. New West hat hiermit wohl schon das Schlusswort gesprochen. Aber wer weiß, vielleicht wird es ja auch zu einer ähnlichen Edition von Bloodshot Records kommen, was zu wünschen wäre, schließlich hat Earle dort seine ersten vier Alben veröffentlicht.

Was Justin Townes Earle auf jeden Fall hinterlassen hat, sind unzählige Notizbücher voller unvollendeter Zeilen und Songs. Aus solchen im Nachlass gefundenen Texten Hank Williams, Woody Guthries oder auch Johnny Cashs sind schon – vertont von anderen – schöne Alben entstanden. Das dachte sich wohl auch Justins Witwe Jenn Marie Earle. Sie hat deshalb 2023 Justins Aufzeichnungen an Sammy Brue übergeben, einen jungen Singer-Songwriter, der über die Jahre zu einer Art Protegé Justins geworden war. Sammy Brue stammt aus Portland, Oregon, und lebt heute in Ogden, Utah. Seit er als Zehnjähriger zu Weihnachten eine Akustikgitarre bekam, schreibt er Songs. Damals wurde Justin sein Held und Sammy ließ seine Gitarre von ihm signieren. Mit 13 posierte er auf Earles Albumcover von „Single Mothers“ und drei Jahre später ging er mit Earle gemeinsam auf Tour.

Brue erhielt zahlreiche Kisten voller Tagebücher und Hefte mit Justins Notizen. Einige dieser Tagebücher enthielten Songs, an denen Earle gerade arbeitete, andere enthielten fertige Songs, die er nie aufgenommen hatte. Nachdem Brue alle Notizen durchgesehen und katalogisiert hatte, starte er eine „Go Fund Me“-Kampagne für ein Album mit diesen Songs. Im Januar 2026 soll nun Brues Album „The Journals“ auf Bloodshot Records erscheinen. Alle Einnahmen sollen der Unterstützung von Justin Townes Earles Witwe Jenn und der gemeinsamen Tochter Etta zugutekommen.

Brues Album ist nicht die einzige Veröffentlichung, die Justin Townes Earle Fans 2026 interessieren wird. Mitte Januar wird auch What Do You Do When You’re Lonesome – The Authorized Biography of Justin Townes Earle erscheinen, geschrieben von Jonathan Bernstein, einen renommierten Musikjournalisten, der u.a. seit langem für den Rolling Stone schreibt. Sein Buch wird mit Sicherheit helfen, das Werk und die komplexe Persönlichkeit von einem der bedeutendsten Songschreiber der Gegenwart besser zu verstehen und wiederum neugierig machen, wieder einiges Neues darin zu entdecken.

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Über Oliver Kanehl (63 Artikel)
Redakteur. Fachgebiet: Traditionelle Countrymusik von vorgestern und heute (Indie Country, Hillbilly, Honky Tonk u.a.) Rezensionen, Specials.
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