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Joshua Ray Walker: Mit großen Songs gegen die Norm

Auf seinen ersten drei Alben weiß der Singer & Songwriter aus Texas mit herzergreifenden Songs voller einnehmender Melodien und bunter Geschichten zu begeistern.

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Joshua Ray Walker Joshua Ray Walker. Bildrechte: Künstler, Promo

Wenn man als Europäer das erste Mal in die USA reist, fällt einem schnell auf, dass es dort wesentlich mehr übergewichtige Menschen gibt als hierzulande. Ja, viele sind sogar extrem übergewichtig und leiden an Adipositas, an Fettleibigkeit. Das ist in den USA so normal, dass man, wenn man z.B. im Mittleren Westen, ein neues T-Shirt, sagen wir mal in Größe 6XL, benötigt, nicht in ein Spezialgeschäft für Übergrößen gehen muss. Nein, man fährt einfach zum nächsten Walmart und findet dort eine Auswahl an Styles und Farben. Das ist nichts Besonderes.

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Mehr als 40 Prozent aller Amerikaner sind übergewichtig. Eine Ursache ist, dass in günstigen, leicht verfügbaren Lebensmitteln, in Fertiggerichten, Softdrinks, Fast Food und Ähnlichem sehr viel Zucker enthalten ist und seit Anfang der 1970er fast ausschließlich hier der sehr günstige Zucker verwendet, der aus Mais gewonnen wird. Dass Zucker Gift ist, ist hinlänglich bekannt. Aber der High Fructose Corn Syrup aus Mais macht noch schneller dick- und krank als herkömmlicher Haushaltszucker, denn aufgrund seiner Zusammensetzung reagiert das Gehirn anders auf seine Botenstoffe und schaltet den Sättigungseffekt aus, den normaler Zucker immerhin besitzt.

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Seit vielen Jahren sprechen US-Regierungsstellen von einer nationalen Gesundheitskrise mit Epidemie ähnlichen Ausmaßen. Noch 1985 hatte kein US-Staat mehr als 15 Prozent fettleibige Bürger bzw. Bürger mit einem Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30. 2020 stieg die Anzahl der Bundesstaaten, in denen mindestens 35 Prozent der Bürger fettleibig sind, dann auf dramatische 16.

Das menschliche Elend, das sich hinter diesen Zahlen verbirgt, ist groß. Es ist keine Frage, dass die Nahrungsmittelindustrie daran interessiert ist, den Status Quo zu bewahren. Perfide, dass sich für die Betroffenen das Dilemma noch vergrößert, wenn sie zu vermehrt angeboten mit Süßstoff gesüßten Alternativen greifen. Süßstoffe verwehren dem Körper ebenso das Sättigungsgefühl, so dass Betroffene weiter viel mehr essen als sie eigentlich benötigen. Ja, die amerikanische Nahrungsmittelindustrie verdient blendend am Schicksal der Betroffenen und auch Big Pharma reibt sich Hände, denn an den daraus resultieren Krankheiten verdient die medizinisch-pharmazeutische Industrie hervorragend. Der amerikanische Kapitalismus verfestigt so den rassistischen Klassismus, der die US-Gesellschaft zusammenhält. Klasse bleibt Klasse, da Fett fett bleibt. Unten bleibt unten. Oben bleibt oben. Arm bleibt arm. Nur Reich wird immer reicher.

Wenn man also eben beschriebenen Menschen beim Einkaufen begegnet, trifft man auf das wahre Amerika, auf Working Class People mit Working Class Problemen. Die erfolgreiche Elite im kalifornischen Silicon Valley hat keine Probleme mit ihrem BMI. Sie kauft bei Whole Foods zu überteuerten Preisen Salat und Avocados und gönnt sich ab und zu ein Mondwasser, während sie sich fragt, ob es denn schlau sei, das eigene Vermögen in Bitcoin anzulegen.

Normalerweise kommen die Menschen des Everyday America, die abgehängten, die prekär leben, drei Jobs haben und mindestens 3XL als T-Shirtgröße, in der Entertainment-Industrie nicht vor. Wenn sie Sixpack hören, denken sie eher an sechs Dosen Pabst Blue Ribbon fürs Wochenende als an Fitness. Für solchen Luxus fehlt die Kraft, das Geld und die Zeit. In der Hochglanzwelt Hollywoods sehen Schauspieler heute aus wie Chris Hemsworth oder Dakota Johnson und erfolgreiche Sänger wie Harry Styles oder Ariana Grande. Sie sind schön, jung und erfolgreich. Alle sind schlank, durchtrainiert und natürlich unheimlich gesund. Wenn es nach diesem System geht, dürfte es einen Künstler wie Joshua Ray Walker eigentlich nicht geben. Dass es ihn gibt, liegt ausschließlich an ihm selbst, denn wer Songs wie z.B. „Canyon“ schreiben kann, sie so aus vollem Herzen singt, der muss gehört werden.

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Canyon, den Song für seinen Vater Johnny, im Berufsleben Fernfahrer, schrieb Joshua Ray Walker kurz nach dessen Krebsdiagnose. Das Stück befindet sich auf Walkers Debütalbum, das er 2019 in den Autumn Sound Studios in Garland, Texas aufgenommen hat – dem gleichen Studio, in dem Willie Nelson 1975 seinen Klassiker „Red Headed Stranger“ einspielte. Auch wenn er in seinen Songs oft in Rollen und Charaktere schlüpft, ist Walker in Canyon voll bei sich und seinem Vater. Wenige Songschreiber zeigen sich so verletzlich. Im Refrain heißt es:

I’m a big, big man
Not just in size or in stature
In terms of space that can’t be filled
I’m a bottomless canyon without a drop to spill

Im Song beschreibt Walker nicht nur offen seine Ängste – ohne Scham spricht er auch über seinen überdimensionierten Körper und im gleichen Atemzug über seine tiefe Leere – dieses Loch, das gefüllt werden will, diese in Jahren gewachsene klaffende Lücke, die der Vater mit Worten der Anerkennung, der Liebe und des Stolzes schnell schließen könnte. Das ist nicht der Brief an den Vater eines berühmten Schriftstellers aus Prag. Das ist der Song an den Vater eines begnadeten Songschreibers aus Dallas, Texas.

Aufgewachsen in einem armen Stadtteil der Metropole verbrachte Walker als Kind viel Zeit mit den Großeltern, da diese sich mit ihm und seinen Eltern ein Doppelhaus teilten. So brachte ihm sein Großvater ganz unterschiedliche Musik nahe: von Flamenco und Merengue bis zu Bluegrass und Grand Ole Opry Livealben war alles vertreten. Früh erhielt Walker vom Großvater Banjo-Unterricht. Mit 12 Jahren begann er dann mit dem Gitarre Spielen und übte exzessiv, bis er mit 19 seinen ersten Song schrieb. Aufgrund von Mobbing wechselte Walker oft die Schule und machte nie einen Abschluss.

Erste Gigs spielte er bereits als Teenager. Bei seinem Debütalbum war er dann jedoch fast 30. Walker benötigte die Zeit, um seine Kunst, sein Handwerk zu perfektionieren. Er musste sich erst das Selbstvertrauen aneignen, seine Songs so zu singen, wie er es heute tut. Noch vor sechs Jahren hätte er sich gar nicht als Sänger bezeichnet. Die rauen Bars, in denen er spielte, waren nicht Orte, sich verletzlich zu zeigen. Hier sollte er lediglich unterhalten und helfen, mehr Bier zu verkaufen.

Walker hat seit 2019 drei Alben veröffentlicht. Genau genommen handelt es sich um eine Trilogie von drei Konzeptalben. Den Hintergrund hierzu hat Walker allerdings erst beim Erscheinen des dritten Albums 2021 enthüllt. Er wollte nicht, dass man den Alben bereits bei ihrem Erscheinen voreingenommen begegnet und sie wohlmöglich durch den Stempel Konzeptalbum vorschnell abtut. Den Alben liegt als Grundidee das Setting eines nächtlichen Honky Tonk zugrunde, der am nächsten Morgen für immer seine Pforten schließen muss. Hier trifft die minderjährige Sexarbeiterin auf Trucker und Möchtegern-Cowboys. Welfare Chet und andere Barflies und Lost Souls erzählen uns ihre Geschichte. Walker fächert dabei dermaßen gekonnt ein Kaleidoskop an skurrilen Charakteren auf, wie es nur echte Meister beherrschen. Allen Alben gemeinsam sind ihre jeweils vier Worte langen Titel, die typische amerikanische Phrasen wiedergeben: „Wish You Were Here“, „Glad You Made It“ und „See You Next Time“ – zusammen selbst fast schon ein Kneipengespräch.

Auch Walkers zweites Album beginnt mit einem kleinen Meisterwerk. Der Protagonist „In Voices“ überlegt, er könnte noch schnell eine Flasche leeren, bevor er seinen Pick-Up-Truck in den See steuert. Dann würde es wenigstens so aussehen, als sei es ein Unfall gewesen. Bitter? Bei weitem nicht die bitterste Geschichte, die Joshua Ray Walker zu erzählen hat. Walker kann seine Charaktere wie in Voices so schonungslos zeichnen, weil er schon selbst an ähnlichen Orten war. Er hatte schon selbst mit schweren Depressionen, Angstzuständen und Selbstmordgedanken zu tun.

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Auch wenn Walkers Helden meist Tragisches verarbeiten müssen, findet der Texaner doch immer wieder einnehmende Popmelodien für seine Songs. Und auch, wenn die hier von mir vorgestellten Stücke anderes vermuten lassen, mag es Walker ab und zu auch uptempo und rockig. Das macht seine drei bisherigen Alben sehr kurzweilig und unterhaltsam. Ja, Joshua Ray Walker ist ein auf viele Weisen besonderer Künstler. Als mit der Beendigung der Arbeit an seinem zweiten Album die Corona-Zeit mit ihren Shutdowns begann, alle Konzerte ausfielen und Walker auf einmal viel Zeit hatte, widmete er sich neben Songschreiben einer Frage, die ihm auf Tour des Öfteren gestellt wurde: Wo findet man eigentlich coole Klamotten für Jemanden mit seinen Ausmaßen? Klar, bei Walmart findet man was zum Anziehen, aber individueller Stil? Coolness? Fehlanzeige. Also tat Walker sich mit einem in Dallas ansässigen Shop zusammen und gründete High, Wide & Handsome, einen Onlineshop für Menschen mit Übergrößen, denen die durchschnittliche Kaufhausware zu langweilig ist. Er selbst kleidet sich sowieso gerne extravaganter, was man live und auf Walkers Albencovern sehen kann.

Da Joshua Ray Walkers Körper nicht den aktuellen Looks von Nashvilles Musikmaschinerie entspricht, rechnete er damit, mit zunehmender Bekanntheit auch negative Kommentare zu bekommen. Überrascht war er dann aber, dass seine Art sich zu kleiden Aufmerksamkeit erregte. Manche Leute hielten ihn für schwul oder transgender. Doch als heterosexueller Mann sind seine Outfits eher Ausdruck seines gewachsenen Selbstbewusstseins als ein Zeichen sexueller Identität. Aber wenn sein Style hilft, kulturelle Vorurteile abzubauen, findet er das gut. Und wenn Leute aus der Trans- und Queer-Community ihn für einen Verbündeten halten, weil er Einhörner auf seiner Jeansweste hat, dann findet er das großartig. Er möchte, dass sich jeder bei seinen Konzerten willkommen fühlt. Alle sollen sich von ihm als Mensch und Künstler unterstützt wissen.

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Auf seinem letzten Album, dem 2021 erschienenem See You Next Time zeigt uns Walker, wie er künstlerisch gewachsen ist. Gemeinsam mit zahlreichen Topmusikern wie z.B. Steelgitarrist Adam „Ditch“ Kurtz hat Walker seinen Stil weiterentwickelt. In Melodien, Texten wie auch mit seiner Fähigkeit, diese beeindruckend zu singen, präsentiert er seine bisher reifste und kraftvollste Platte. Wieder ist Walker tiefsinnig, einfühlsam und brutal selbstironisch, ohne zynisch zu sein. Außerdem versucht er Neues und glänzt auch hier, wenn er uns mit I Feel Sexy After Dark einen echten Oldschool Soulhit schenkt. Er wollte einfach mal einen Song schreiben, den man gerne laut dreht und dazu abfeiern möchte. Inspiriert haben ihn diese sexy Crooner Countrysongs, die stets Leute sangen, die ziemlich selbstbewusst daherkamen, aber selbst eigentlich ziemlich unsexy waren.

Joshua Ray Walker wird bereits seit längerem in einem Atemzug mit vielen legendären Songschreibern des Lone Star States genannt. Er macht da weiter, wo Guy Clark, Townes Van Zandt and Billy Joe Shaver aufgehört haben. Und was Vielseitigkeit, Tiefe und Ideenreichtum angeht, können es Walkers Songs so ziemlich mit jedem aufnehmen. Zudem singt der inzwischen 31-jährige mit einer beeindruckenden Stimme, die scheinbar mühelos den Soul eines Al Green mit dem Southern Twang eines Dwight Yoakam verbindet. Das hat ihn inzwischen erst zu Jimmy Fallons Tonight Show und dann auch auf die Bühne der Grand Ole Opry gebracht.

Im Spätsommer 2022 sollte Joshua Ray Walker eigentlich zwei Konzerte in Deutschland spielen. Leider musste er seine Europatournee aus gesundheitlichen Gründen absagen. Bleibt zu hoffen, dass es ihm bald besser geht und er seinen Weg fortsetzen kann, denn Künstler wie er sind der Grund, warum man Countrymusik liebt.

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Über Oliver Kanehl (58 Artikel)
Redakteur. Fachgebiet: Traditionelle Countrymusik von vorgestern und heute (Indie Country, Hillbilly, Honky Tonk u.a.) Rezensionen, Specials.
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