Tyler Childers live in Hamburg – kraftvoll, laut und klar
Vergangenen Montag brillierte der Amerikaner bei seinem einzigen Deutschlandkonzert vor ausverkauftem Haus in der Hansestadt.
Authentische Countrymusik hat es in Deutschland schwer. Anders ist das in Großbritannien, und insbesondere in den Niederlanden und Skandinavien. Dort spielen Künstler, die hierzulande nur Eingeweihte kennen, oft vor ausverkauften Häusern. Seit einiger Zeit versucht man dies in Hamburg zu ändern, was dazu führt, dass immer mehr Künstler aus Übersee auf ihrem Weg nach Skandinavien dort Station machen.
Insbesondere der Nochtspeicher mit seinem Kellerclub Nochtwache hat sich beim Aufbau junger Indie-Country-Talente Verdienste erworben, spielten doch dort u.a. Künstler wie Charley Crockett, Willi Carlisle oder John R. Miller ihre ersten Konzerte. Und so ist es jener John R. Miller, der nun im benachbarten deutlich größeren Docks um kurz vor acht allein mit seiner Gitarre auf die Bühne tritt, um den Abend als Support für Tyler Childers zu eröffnen.
Seit Jahren ist John R. Miller ein Geheimtipp in Nashvilles Indie-Country-Szene. In so mancher Band hat der Multiinstrumentalist schon live ausgeholfen oder bei Plattenaufnahmen assistiert und dabei durchaus einige prominente Fans wie z.B. Tyler Childers gewonnen. Dass Miller selbst ein ausgebuffter Singer & Songwriter ist, hat er bereits 2014 bei seiner ersten Veröffentlichung Service Engine unter Beweis gestellt. Seine 2018er und 2021er Alben runden das Bild eines pfiffigen Geschichtenerzählers mit feinen Arrangements ab, der es sogar wie in Half Ton Van vermag, zärtlich und zugleich selbstironisch über den geplanten Verkauf eines Autos zu singen. Heute ist er wie Sierra Ferrell auf dem renommierten Label Rounder zu Hause und brachte dort im Oktober 2023 sein aktuelles Album Heat Comes Down heraus.
In Hamburg gelingt es Miller mühelos, das Publikum mit seinen schlichten, aber eingängigen Songs in seinen Bann zu ziehen. Begeisterung brandet auf, als er mit Conspiracies, Cults and UFOs vom neuen Album auch eine schmissige Uptempo-Nummer spielt und damit unter Beweis stellt, dass manche Künstler auch nur mit einer Gitarre einen ganzen Saal rocken können.
Als Tyler Childers dann mit seiner sechsköpfigen Band seine Show beginnt, braucht er keine Aufwärmphase und steigt mit Old Country Church gleich kraftvoll ein, um in den kommenden zwei Stunden ein Feuerwerk an Hits abzubrennen, das seinesgleichen sucht. Childers macht keine Gefangenen, wenn er breitbeinig, eine Hand erhoben, mit lauter Stimme seine Songs in die Hamburger Nacht ruft. Sein frischer Countrysound mit Elementen von Folk, Gospel und jeder Menge Honky Tonk reißt von der ersten Minute die Menge mit. Dabei stellt sich vor allem der auffällig junge Teil des Publikums, die Anfang 20-jährigen, als besonders textsicher heraus. Gut die Hälfte dieser Gruppe scheint aus Expats, Austauschstudierenden aus den Vereinigten Staaten zu bestehen, die insbesondere bei Childers neueren Hits immer gleich Arme und Handys nach oben recken, bereits wenn der Sänger aus Kentucky die ersten Zeilen anstimmt.
Dass sich auch jüngere Menschen wieder vermehrt den eher traditionellen Musikformen von Roots und Country zuwenden, liegt zum einen sicherlich auch darin begründet, dass sich Musiker wie Childers auf der einen Seite zwar im Sound an Traditionelles anlehnen, aber auf der anderen Seite mit Selbstbewusstsein und großer Entschlossenheit ihre Musik inhaltlich im Hier und Jetzt verorten.
Tyler Childers machte diesbezüglich erstmals im September 2020 auf sich aufmerksam, als er ohne vorherige Ankündigung ein Oldtime Fiddle-Tunes Album veröffentlichte. Damals war er schon der neue Star der US-Independent Country-Szene, der es völlig ohne Unterstützung der amerikanischen CountrymMusik-Sender geschafft hatte, sich in den Jahren zuvor eine beachtliche Fangemeinde zu erspielen. Nach Corona konnte Tyler dann in manchen Gegenden der USA bereits in Arenen und Stadien spielen.
Das Album Long Violent History war schon von seiner Machart ein krasser Move. Aber gepaart mit seinem Titelsong – dem einzigen Stück mit Gesang, war es kurz nach dem Mord an George Floyd ein beindruckendes Statement zu den Ereignissen und Entwicklungen in den USA. Zudem meldete sich Childers damals auch in den sozialen Medien prominent mit einer über sechsminütigen Videobotschaft zu Wort und legte dabei auf sehr bewegende und intelligente Weise den Finger in die Wunde der langen gewaltsamen Geschichte seines Landes und verkündete dann, dass er alle Einnahmen aus dem Albumverkauf seiner sozial arbeitenden Stiftung zur Gute kommen lassen werde.
Dieses Engagement in der Tradition eines Woody Guthrie oder Willie Nelson ist sicherlich auch etwas, was Childers für jüngere Fans einnimmt. Außerdem schreibt Childers umwerfende Liebeslieder, die genau die richtige Portion Pathos haben, die junge Liebe auszeichnet. Songs wie Lady May oder All Your’n werden daher jetzt frenetisch mitgesungen. Und natürlich punktet Childers auch live mit In Your Love von seinem aktuellen, im September 2023 erschienenen, sechsten Album Rustin In The Rain, einem Song, der Childers politisches Engagement und seine gekonnte Liebeslyrik kongenial zusammenbringt, wird im zum dazugehörigen Video doch die berührende Liebesgeschichte zweier Männer erzählt, die unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen um ihre Liebe kämpfen müssen.
Mit seinem Wunsch, dass sich jemand wie sein schwuler Cousin auch mal in einem Countrymusik-Video repräsentiert fühlen kann, konnte Childers einmal mehr die konservative Welt im amerikanischen Süden provozieren und die Herzen des jungen, kritischen Amerika gewinnen.
Auch das im Tex-Mex-Sound daherkommende Percheron Mules, das wunderbare Space and Time sowie das schmissige Titelstück „Rustin‘ in the Rain“ vom aktuellen Album machen live eine überzeugende Figur, denn Rustin‘ in the Rain ist nach dem etwas unentschieden wirkenden Triple-Album Can I Get My Hounds To Heaven? wieder eine richtig gelungene Platte geworden.
Eine im wahrsten Sinne des Wortes äußerst überzeugende Figur macht aber auch der Künstler selbst. Und er spricht zwischen den Stücken auch immer mal darüber: Am 27. Februar würde sich zum vierten Mal der Tag jähren, an dem er nüchtern wurde und blieb. Später erzählt Childers, dass er 2018 nach seiner ersten Hamburg-Show so betrunken war, dass er über einen Straßen-Poller fiel und so seine Armbanduhr zerstörte.
Die Wenigen im Publikum, die bereits bei Childers erstem Soloauftritt in Hamburgs kleiner Prinzenbar waren, sahen damals zwar eine fulminante Performance, aber der Künstler war körperlich in ziemlich schlechter Verfassung und glich mit seinem leicht aufgeschwemmten Äußeren und seinem Walrossbart eher dem versoffenen Dauergast einer Kiezabsteige als dem jungen Mann, der hier nun kraftvoll shoutet und abliefert. Sieht man jetzt Bilder der früheren Show, sah er damals mindestens zehn Jahre älter aus als heute. Sein damaliger Lebensstil tat ihm nicht gut. 2020 in der Pandemie hörte er dank seiner Frau Senora May mit dem Trinken auf. Es gibt wenige Leute in der Indie-Country-Welt, die heute gesünder und sportlicher wirken. Hut ab!
Childers neue kraftvolle Klarheit zeigt sich in seiner ganzen Performance. Hier steht ein Mann, der mit sich und der Welt im Reinen ist, der weiß, was er tut und dabei sichtlich Freude hat. Seine Band steht Childers dabei in Tempo und Power nichts nach, was sie sowohl bei Honky Tonk Schiebern wie Country Squire als auch bei den Kult-Klassikern von Childers von Sturgill Simpson produziertem zweiten Album Purgatory von 2017 mühelos unter Beweis stellt: Whitehouse Road und I Swear (To God) stechen dabei besonders heraus.
Zur Freude der 1500 Konzertbesucher setzen Childers und die Band auch während der Show immer wieder Akzente, die ihre Performance auflockern: So versucht sich Childers mal an der Fiddle und spielt mit der Band ein hypnotisches Instrumental oder begleitet sich allein auf einem Stuhl sitzend mit der Gitarre und gibt mit Bottles & Bibles von seinem 2011 im Selbstvertrieb herausgebrachten gleichnamigen Debütalbum sogar einen echten Klassiker zum Besten.
Auch die energiegeladenste Show findet einmal ihr Ende und als Tyler Childers nach zwei Stunden Power-Country von der Bühne tritt, ist auch ohne Worte schnell klar, dass es auch diesmal wieder keine Zugabe braucht. Childers hat alles gegeben und zufrieden trotten die glücklichen Fans in die kühle Hamburger Nacht.
Damn good gig, good damn crowd.