John Hartford
„John Hartford war einer der ungewöhnlichsten Musiker überhaupt. Er hatte einen Fuß tief in der Vergangenheit, den anderen immer mindestens einige Schritte in der Zukunft – und beide Füße tanzten!“ Dies sagte ein Musikexperte einmal über den am 30. Dezember 1937 in New York City geborenen Künstler.
Besser hätte man es nicht formulieren können. Ich habe nie wieder ein solch ungewöhnliches, informatives und kurzweiliges Interview machen können wie an jenem Frühlingsabend in den späten 1970er Jahren im Ernest Tubb Record Shop in Nashville. Mit dabei auch Shel Silverstein, der ein nicht minder ungewöhnlicher Zeitgenosse war. Hartford liebte es, über seine Leidenschaften erzählen zu können. Das tat er oft, nicht nur i9n Interviews sondern bei jeder Gelegenheit, egal ob für Kinder, für Senioren, auf der Bühne oder in privater Gesellschaft.
Zwar wurde er in New York City geboren (übrigens als John Cowan Harford, Chet Atkins veranlasste ihn später, dem Nachnamen ein „t“ hinzuzufügen und sich „Hartford“ zu nennen) aber aufgewachsen ist er in St. Louis, Missouri, direkt am Mississippi. Der Fluss hatte es ihm angetan, er würde sein ganzes weiteres Leben beeinflussen und ihn nicht mehr loslassen.
Hartford kommt aus einer gut situierten Familie, der Vater war ein angesehener Arzt. Zwei Leidenschaften kristallisierten sich in der Kindheit schon heraus: die Liebe zum Fluss und die zur Musik. „Ich habe natürlich dauernd die Grand Ole Opry im Radio gehört. Als ich Earl Scruggs das Banjo spielen hörte, war es passiert. Das hat mein Leben geändert. Von da an wollte ich Musiker werden. Mit 12 konnte ich Banjo und Fiddle spielen, dann kamen Gitarre und Mandoline hinzu und bis zur ersten Bluegrass Band war es nicht mehr weit“, erzählte er.
Aber sein Weg sollte sich vom üblichen unterscheiden. Hartford folgte seinem Instinkt, nicht irgendwelchen Spielregeln. So etablierte er sich zunächst in der lokalen Szene, er spielte in Bands, arbeitete als DJ, machte erste Plattenaufnahmen, schrieb Songs, ehe er sich 1865 nach Nashville orientierte. Ziemlich bald nahm ihn RCA unter Vertrag und veröffentlichte 1966 das erste Album: „Looks At Life“. Im Jahr danach erschien „Earthwords & Music“, eine unspektakuläre LP, die aber ein Juwel enthielt: „Gentle On My Mind“! In Hartford’s Version nahm kaum Jemand Notiz davon, doch Glen Campbell erkannte das Pozenzial. Seine Version wurde ein Klassiker.
„Gentle On my Mind“ gehört zu den am häufigsten aufgenommenen Songs der Unterhaltungsmusik. Hartford bestätigte: „Ich weiß nicht, wie viele Versionen es davon gibt, auch in anderen Sprachen. Jedenfalls hat mir der Song jede Menge Tantiemen eingebracht, er hat mir die finanzielle Freiheit verschafft, die ich brauche und von der ich dann profitiert habe. Sonst hätte ich viele meiner Projekte nicht machen können. Angeregt zu dem Song wurde ich übrigens durch den Film Dr. Schiwago.“
John Hartford hat im Laufe der Jahre über 30 Alben veröffentlicht, eines davon ungewöhnlicher und skuriler als das andere. Ein Hit als Sänger war ihm nie vergönnt, er hat ihn aber auch nicht angestrebt. Nur zwei seiner Aufnahmen konnten sich in die hinteren Regionen der Charts schieben, darunter „Gentle On My Mind“ 1967 auf Platz 60.
Dank „Gentle On My Mind“ und seines breit gefächerten Talentes war Hartford angekommen und akzeptiert. Neben den eigenen Produktionen wirkte er in zahlreichen TV Shows als Dauergast mit, darunter „The Johnny Cash Show“, „The Smothers Brothers Comedy Hour“ und „The Glen Campbell Goodtime Hour“. Auch die beliebte Serie „Hee Haw“ wollte nicht auf seine Talente verzichten.
Aber John Hartford blieb sich künstlerisch immer treu. Davon zeugen seine Alben ebenso wie seine Live-Gigs. Ihn faszinierte es, in der Historie zu graben, fündig zu werden und „Althergebrachtes“ mit Neuem zu verbinden. In dieser Hinsicht kann man ihn als Visionär bezeichnen. Seine Experimentierfreudigkeit ist sprichwörtlich gewesen. Immer wieder traf er dabei auf Gleichgesinnte wie Sam Bush, Vassar Clements, Doug & Rodney Dillard oder Norman Blake. Ob es ohne einen John Hartford so etwas wie „Newgrass“ gegeben hätte, ist fraglich. Immer wieder fand Hartford auch Plattenfirmen, die bereit waren, den Weg mitzugehen, obgleich klar war, dass kommerzielle Erfolge damit nicht möglich sein würden. Er stöberte in der Fiddle Music der Appalachen aus der Zeit vor Bluegrass ebenso wie in der Musik der Ozarks und verknüpfte Elemente daraus mit aktuellen Trends. Als Beispiel möge ein Song wie „Boogie On Reggae Woman“ dienen oder das 1999er Album „Retrograss“, das Songs wie „When I’m Sixty-Four“, „The Dock Of The Bay“ oder „Maybellene“ mit Bluegrass-Elementen versieht. Schon in vergleichsweise jungen Jahren war Hartford zum Mentor und Vorbild für viele seiner Kollegen.
John Hartford live, das bedeutete zumindest ein Erlebnis der anderen Art. Egal ob er mit einer seiner Bands, die er im Laufe der Jahre hatte, oder solo auftrat. Neben ungewöhnlichen Instrumenten, von denen man vorher nie etwas gehört hatte, gehörten Tanzeinlagen der traditionellen Art dazu, nicht ohne sein sprichwörtlich gewordenes Sperrholzbrett. Mit viel Humor entführte er seine Hörer in eine andere musikalische Welt. Insbesondere im letzten Teil seiner Karriere, in dem er zunehmend mit seinem Sohn Jamie arbeitete, kristallisierte sich seine Liebe zur fast vergessenen traditionellen Musik heraus, die er in immer wieder aufregenden Varianten mit der Gegenwart verknüpfte. Es ist kein Zufall, dass John Hartford am Soundtrack zum Film „O Brother, Where Art Thou“ maßgeblich beteiligt war. Es sollte das letzte große Projekt für ihn gewesen sein.
Nicht unerwähnt bleiben darf die andere Leidenschaft Hartford’s: der Mississippi. Zu ihm hat er sich zeitlebens hingezogen gefühlt, er kehrte immer wieder zu ihm zurück. Hartford machte irgendwann sein Diplom als Lotse für Raddampfer. Mehr noch, er übte die Lotsentätigkeit jahrelang auch während des Sommers auf der „Julia Belle Swain“ aus. Auch als Lotse auf einem Schleppkahn arbeitete Hartford nicht nur auf dem Mississippi sondern auch auf dem Tennessee und Illinois River. Sein Haus in Madison vor den Toren Nashville lag an einer Biegung des Cumberland River und war dem Deck eines Raddampfers nachempfunden. Hier schrieb, komponierte und musizierte Hartford nicht nur, er unterhielt sich über Funk auch gern mit den Kapitänen der vorbei fahrenden Schleppkähne.
John Hartford steckte noch voller Pläne und arbeitete an neuen Projekten als ihn ein Größerer von der Bühne abberief. Schon seit einigen Jahren war Hartford an Non-Hodgkin-Lymphom erkrankt, am 4. Juni 2001 erlag er in Nashville dieser Krankheit im Alter von nur 63 Jahren.