Luke Bell: Die lange Suche nach dem verlorenen Sohn
Seit Jahren fragte sich Oliver Kanehl, was mit dem Ausnahmemusiker geschah. Ende August ist Bell unter tragischen Umständen gestorben: Teil 1 seiner Spurensuche.
Auf Luke Bells 2016er Album, das schlicht nach ihm benannt ist, befindet sich der Song „Where Ya Been“. Und „Wo bist Du gewesen?“ oder besser „Wo bist Du, Luke?“ war eine Frage, die ich mir in den letzten Jahren tatsächlich oft gestellt habe. Wie viele Freunde und Fans von Honky Tonk und guter Countrymusik war ich damals total begeistert, als ich das Album das erste Mal hörte und mir war sofort klar, dass ich Luke unbedingt live sehen musste, wenn er hier mal spielen würde.
Die Platte bekam viel Aufmerksamkeit und verbreitete dermaßen frischen Wind in der Indie-Country-Szene, dass man das Gefühl hatte, ein Album in den Händen zu halten, dass von vorne bis hinten definierte, wie Countrymusik nun klingen sollte: Frisch, beschwingt und so herzlich, dass man beim Hören ein Lächeln ins Gesicht gezaubert bekäme.
Als Luke Bell richtig durchstartete – erst das Video zu Sometimes und dann das Album herauskam, war er im Jahr zuvor exzessiv in den USA getourt und hatte u.a. für Willie Nelson, Dwight Yoakam und Hank Williams Jr. Shows eröffnet. Die renommierte Booking Agentur WME hatte sein Talent erkannt und ihm große Shows besorgt, bei denen er beim Publikum punkten konnte. Es wirkte so, als könne man dabei zusehen, wie eine neue Countrymusik-Generation ihren Platz einnahm. Ja, Luke Bell tat in diesem Moment genau das, was kurz zuvor Sturgill Simpson begonnen hatte und später Tyler Childers und insbesondere Charley Crockett ebenso eindrucksvoll machten: Sie zeigten dem das Formatradio und Music City dominierenden Country-Pop-Mainstream symbolisch den Mittelfinger, da sie mit einem Sound Erfolg hatten, der sich bewusst auf die Legenden bezog, die im Nashville dieser Tage niemals mehr einen Plattendeal ergattert hätten.
Ich bin mir sicher, Luke Bell hätte heute mindestens den Status eines Charley Crockett, wenn seine Karriere auf normalem Wege weitergegangen wäre. Aber stattdessen verschwand Luke Bell urplötzlich von der Bildfläche und die große Tour, die dem Plattenrelease folgen sollte, wurde abgesagt. Eine Erklärung gab es dafür nicht. All die Jahre schaute ich immer mal wieder online, ob ich einen Hinweis darauf bekommen könnte, was Luke gerade tut bzw. wo er abgeblieben war. Doch Luke Bell wurde sein eigenes Phantom.
Immer wenn ich Musiker traf, die ihn kannten, fragte ich nach ihm und unterstrich, dass ich liebend gerne helfen würde, ihn nach Hamburg zu holen. Der Tenor war immer der gleiche: Man wisse nicht, wo er sei. Es sei ihm damals wohl alles ein bisschen zu viel geworden. Er sei halt ein schräger Vogel. Jemand hatte sich mit ihm gestritten, ein anderer betonte, Luke habe schrecklich viele Drogen genommen und solle bleiben, wo auch immer er sei, denn er habe sogar mal auf ihn geschossen.
Und Luke Bell spielte nie hier. Er nahm keine neue Platte mehr auf, tourte nicht mehr mit seiner Honky Tonk Band. Es war irritierend: Der Musiker, dem man ohne weiteres zutraute, groß rauszukommen, tauchte unter und ward lange nicht gesehen.
Oft wollte ich schon über das Mysterium um Luke Bell und seine Musik schreiben. Dass ich diese Geschichte schließlich aufgrund ihres tragischen Endes aufgreifen müsste, sollte sich im Laufe des Sommers 2022 sehr langsam ankündigen, bis es leider zur Gewissheit wurde.
Luke wurde am 27. Januar 1990 als Luke Flitner Bell in Lexington, Kentucky, geboren. Als er zwei Jahre alt war, zog die Familie nach Cody, Wyoming in die Heimat der Mutter. Die Flitners haben dort in Shell in der Nähe von Cody eine große Ranch mit Farmbetrieb. Hier verbrachte Luke als Jugendlicher seine Sommer. Drei Monate ohne Internet und Handy vertieften Lukes Liebe zur Natur und den Tieren. In seinem Elternhaus gab es immer Musik und so hatte Luke als skatender Teenager in Baggy Pants dann auch bereits seine erste Band. Eines Tages mit 18 entdeckte Luke auf der Ranch der Großeltern deren alte Country-Alben. Und plötzlich passte alles zusammen: selbst immer mehr Country-Dinge zu tun, mit den Pferden zu helfen, als Cowboy zu arbeiten und diese Musik zu hören, war für ihn von nun an das Natürlichste auf der Welt.
Später besuchte Luke ein paar Semester die University of Wyoming in Laramie und studierte mehr schlecht als recht Archäologie. Hauptsächlich machte er Musik, z.B. indem er auf der Straße Songs sang, bis er ein paar Dollar beisammen hatte, um sich ein Bier in der Buckhorn Bar kaufen zu können oder er trat bei deren Open Mic Shows auf. Dann kam es zu einer Begegnung, die sein Leben veränderte: Eines Tages schlug Pat Reedy in Laramie auf, um in der Bar eine Show zu spielen. Als Reedy mit seinem alten Datsun Diesel Pickup, einem obdachlosen Maler und seinem Wolfshund-Mischling im Schlepptau auf einmal aus dem Nichts auftauchte, war es für Bell, als ob ein geheimnisvoller Fremder von einem anderen Stern gelandet sei. Reedys Art, Songs zu schreiben und zu singen beeindruckten und inspirierten den damals 19-Jährigen sehr. Und Luke wurde bewusst, dass es da draußen noch eine völlig andere Musikwelt gab. Eine Welt, die er nicht kannte, aber kennenlernen wollte: Von Pat lernte Luke, auf Güterzüge zu springen und seine Gefühle in Songs zu übersetzen. Er lernte von ihm von seiner Freude und seinem Herzschmerz zu singen. Und er lernte, dass Frauen das mögen und man dafür sogar Geld bekommen kann.
Am 27. Januar 2011 wurde Luke 21, verließ das College und zog nach Austin, Texas. Von nun an wollte er nur noch Musik machen. Seine Eltern waren nicht begeistert.
Wenig mehr als ein Jahr später veröffentlichte er bereits seine erste CD. Schnell hatte er in der texanischen Musikmetropole Fuß gefasst und sich mit viel Chuzpe behauptet, in dem er z.B. in der Musikbar The Hole in The Wall einfach bei Mike and the Moonpies auf die Bühne kletterte und Barbesitzer Dennis O’Donnell schließlich so lange nervte, bis er mit seiner neuen Band Fast Luke & The Lead Heavy einen eigenen nächtlichen Slot bekam. Als die Band sich auflöste, machte er allein weiter und nahm das Debüt ohne große Labelunterstützung auf. Wie das spätere bei Big Hill erschienene Album von 2016 hat die CD von 2012 keinen eigenen Titel und trägt einzig den Namen des Künstlers.
Mit Songs wie Strange Nation oder dem berührenden „The Wolf Man“ weiß Bell bereits zu diesem Zeitpunkt zu überzeugen. Dieses mit gerade mal 22 Jahren aufgenommene Album strahlt bereits eine unglaubliche musikalische Reife aus und bietet dabei eine große Bandbreite an Songs und Sounds. Was bei anderen Jahre gedauert hätte, vollführte dieser junge Mann mit manischem Einsatz in kürzester Zeit, und nun erkannten auch die zuerst noch skeptischen Eltern, was für ein Riesentalent ihr sturköpfiger, energiegeladener Sohn war.
Auch O’Donnell sah das und gab Luke im damals noch ganz neuen The White Horse seinen ersten regelmäßigen Gig. Aber ein Rambler wie er war, hielt es Bell nicht lange in Austin und nach gut zwei Jahren nachts in Kneipen spielen und bei Tage auf dem Bau arbeiten oder Pferde beschlagen, ging er nach New Orleans. Hier spielte er auf der Straße Old Time Music, beschäftigte sich mit frühem Blues und Jazz und interessierte sich für Jug Band Sounds.
Und hier traf Luke das erste Mal auf Matt Kinman, den Mann, der in seinem späteren Leben eine immer größere Rolle spielen sollte. Der beinharte Country-Traditionalist Kinman, der zuvor mal mit Old Crow Medicine Show gespielt hatte und auch mit Emmylou Harris und Marty Stuart später die Bühne teilte, freundete sich mit Luke an. Das Gastspiel in der Stadt währte jedoch gerade mal sechs Monate. Dann ließ Bell seine dortige Bleibe, einen schimmeligen, nach Bleiche riechenden Wohnwagen hinter sich und zog erstmal zurück nach Wyoming, um sich selbst und ausreichend Geld zu sammeln, um mittels Kickstarter im Folgejahr seine zweite Platte realisieren zu können. Die wollte er in Nashvilles Bombshelter Studio mit Andrija Tokic aufnehmen. Mit viel Unterstützung, auch aus der Heimat, kam das Geld zusammen und Bell konnte weiter nach Nashville ziehen, um dort sein Glück zu suchen.
Dort schlief Luke erst einmal auf JP Harris‘ Couch, bis er bei Bobby Bare Jr. unterkam. Part time Musiker JP gab ihm außerdem Arbeit und sie renovierten gemeinsam Häuser. Luke fand auch schnell Anschluss in der Indie-Szene von East Nashville und begann, regelmäßig in der skurrilen Bar Santa’s Pub zu spielen, die sein zweites Zuhause wurde. In Santa’s Pub gab’s Karaoke und es war immer Weihnachten – mit Tannenbaum und allem Drum und Dran. Und man konnte sich dort, wie in amerikanischen Kaufhäusern in der Weihnachtszeit üblich, für ein Foto auf Santas Schoß setzen. Denn Barbesitzer Santa war dem Weihnachtsmann wie aus dem Gesicht geschnitten.
Es gibt viele skurrile Geschichten über Bell aus dieser Zeit, z.B. wie er auf einer Party in dem Haus, das er mit Bare bewohnte, mit einer Waffe in die Decke schoss und damit die Gäste zu Tode erschreckte. Trouble dieser Art wurde Lukes ständiger Begleiter. Bei einer solchen Gelegenheit begegnete Bell seinem späteren Manager Brian Buchanan und spielte für diesen bis zum Morgengrauen seine Musik. Buchanan war schwer beeindruckt von Bells stimmlichen Qualitäten, die in ihrer ganzen Bandbreite zu berühren vermochten. Wenig später wurde Buchanan engagiert Bell zu managen, der nun bereits einen Ruf genoss, eine echter Hellraiser zu sein. Ein Radaubruder, der zwar alle für sich einnimmt, der aber zugleich unglaubliches Chaos stiftet. Und Buchanan erkannte, dass das vor allem daran lag, dass Luke unter einer schwer zu kontrollierenden chronischen Stimmungsstörung litt.
Bells im Selbstvertrieb herausgegebenes zweites Album Don’t Mind If I Do von 2014 ist bereits die Blaupause für das spätere 2016er Album, denn es enthält etwa zur Hälfte Aufnahmen, die dann auch auf der zwei Jahre später erscheinenden Platte sein werden. Songs wie „Loretta“, „The Great Pretender“, „Glory And The Grace“, „Working Man’s Dream“ und die spätere Hitsingle „Sometimes“ sind hier schon enthalten, während der Opener Rattlesnake Man heute nahezu unbekannt ist.
Thirty Tigers-Chef David Macias hörte von Bell und war von der Stimmung von Lukes Songs und deren Oldschool Sound so angetan, dass er ihn mit seiner Independent Künstler Agentur im Jahr 2015 unter Vertrag nahm.
Bereits im November 2014 hatte das Paste Magazine anlässlich einer Daytrotter Session mit Bell konstatiert, dass dieser ohne Zweifel einer der talentiertesten Songsschreiber im Country & Western-Bereich sei. Seine Stories hätten Hemingway-Qualität. Ja, sie würden so klingen, als ob der Literaturnobelpreisträger lieber Hank Williams gewesen wäre, als ein Trinker auf einer Insel. Ein bezeichnender Vergleich, wenn man bedenkt, dass manche Autoren Hemingway neben seiner Genialität eine bipolare Störung nachsagen.
Bells Manager Buchanan sagt, dass sich Bells psychische Gesundheit bereits 2015 ernsthaft verschlechterte, nachdem dessen Vater gestorben war: „Luke hatte all diesen Erfolg, einen Plattenvertrag und all diese Leute hinter sich – aber er hatte nicht seinen Vater, die Person, die man dabeihaben möchte, die sehen soll, dass man es geschafft hat.“
Nun mit Thirty Tigers im Team ging Bell noch einmal ins Studio und nahm mit Produzent Andrija Tokic noch eine Handvoll neuere Songs auf, die den offiziellen Release komplettieren sollten. Als Ende April 2016 die Single Sometimes erschien, gab es dazu ein witziges Video, das natürlich in Santa’s Pub gedreht wurde und trashige Karaoke-Ästhetik versprüht. Im Clip gibt sich das Who’s Who von Nashvilles damaliger Indie-Country-Szene ein Stelldichein: Unter anderem singen hier Kristina Murray, Logan Ledger, Laura Mae Socks oder Erin Rae lächelnd in die Kamera. Selbst seine Schwester und Laura E. Partain, die Fotografin der bekanntesten Bell Portraits, lotste Luke ins Video. Und natürlich durften Pat Reedy und ebenso JP Harris nicht fehlen.
Wenn man aus heutiger Sicht mehr erahnen kann, was damals in Lukes Innerem vorging, bekommen einige Zeilen des Stücks, das wie ein Break-Up-Song daherkommt, eine Doppelbödigkeit, die verstört, sagt doch hier jemand geradeheraus, wie es um ihn bestellt ist: Sometimes, I’m alright. But other times, oh lord I feel like hell, like hell. Ähnlich ist es in Where Ya Been?, das die Zerrissenheit des Protagonisten dadurch unterstreicht, dass dieser sich selbst verloren hat und nun mit seinem Spiegelbild in Dialog tritt, um den inneren Einklang wiederherzustellen. Solche unverstellt ehrlichen Songs, einem Hilferuf gleich, haben Künstler wie Amy Winehouse, John Lennon und Kurt Cobain geschrieben. Und im Country-Feld muss man zweifellos an Townes Van Zandt oder Hank Williams denken. In solchen Songs wirkt Bell wie der verlorene Sohn, der den Weg nach Hause nicht findet.
In damaligen Interviews zum Albumrelease wird Luke oft darauf angesprochen, dass sich in seinem Sound Anleihen an Klassiker des Honky Tonk finden. Er sagt, dass er es toll fände, wenn Leute bemerken würden, auf wen er sich beziehe. Das sei für ihn wie den Hut zu ziehen. Darum gehe es in der Countrymusik. Er habe mit JP Harris an Häusern gebaut. Und er könne kein Haus bauen, ohne sich andere Häuser und Baupläne angeschaut zu haben. Um den eigenen Sound zu kreieren, müsse man sich mit denen beschäftigen, die vorher Ähnliches gemacht haben.
Etwa einen Monat vor dem Albumrelease traf Kyle Coroneos, genannt Trigger, Mastermind des Countrymusik-Blogs SavingCountryMusic.com, Luke zu einem Interview in einer der Mittagspausen seines Jobs bei JP. Dabei wirkte Luke eher besorgt als begeistert über seine Zukunft. Kyle hatte den Eindruck, dass Luke lieber Pfostenlöcher graben würde als auf großen Bühnen zu spielen. Es schien, die Ochsentour des Vorjahres hatte Spuren hinterlassen: „You bet your ass, I wanted to quit last year! There were times I wasn’t having any fun“, gab Bell zu Protokoll. Als Trigger ihn bei der Baustelle wieder abgesetzt hatte, machte sich Luke sogleich ans Werk. Es schien, als ob Bell viel lieber mit seinen Händen arbeiten würde, als z.B. den Opener für Hank Jr. zu geben.
Nach dem Album-Release im Sommer 2016 und einem letzten Soloauftritt beim Americanafest im September wurden alle Herbsttermine gecancelt und da die Öffentlichkeit nichts über die Gründe erfuhr, blieb Lukes Verbleiben mysteriös. Im November des Jahres gab es ein kurzes Lebenszeichen, als über die Website des amerikanischen Rolling Stone ein Video veröffentlicht wurde, in dem Luke draußen auf der Porch sitzend den Lennon-Klassiker Jealous Guy covert. Ich weiß noch, wie mich das damals irritierte. Es ist ein schönes Cover, aber es war absolut nicht das, was man in diesem Moment von Amerikas Honky Tonk Hoffnung Nr. 1 erwartete. Das Stück war ja nicht einmal ein Genre-Song. Jealous Guy ließ jedoch erahnen, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte, denn wie heißt es in Lennons Song so treffend „I began to lose control …“
Luke Bell: Das 2022er Album
Titel: Luke Bell
Künstler: Luke Bell
Veröffentlichungstermin: 28. Oktober 2016
Label: Bill Hill
Formate: CD, Vinyl & Digital
Tracks: 10
Genre: Country
Trackliste: (Luke Bell)
01. Sometimes
02. All Blue
03. Where Ya Been?
04. Hold Me
05. Loretta
06. Working Man’s Dream
07. Glory And Tthe Grace
08. The Bullfighter
09. Ragtime Troubles
10. The Great Pretender