Mary Gauthier: Live At Blue Rock
Hier kommt ein Live-Album der ganz besonderen Art. Aufgenommen wurde es mit Publikum im dafür ideal geeigneten Blue Rock Artist Ranch and Studio vor den Toren von Austin (Texas). Von einer Künstlerin, deren Spezialität es ist, Geschichten zu erzählen. Es wurde ein besonders emotionaler Abend, denn die Sänger- und Songschreiberin Mary Gauthier legte all ihr Gefühl in den Gesang.
Gebannt hängt der Zuhörer an ihren Lippen, denn es sind diese Geschichten, die fesseln, die den Hörer packen und auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitnehmen. Ähnlich erging es mir vor Jahren bei Konzerten von Joan Baez und Melanie.
Wer ist diese Mary Gauthier? Geboren am 11. März 1962 in New Orleans lernte sie ihre Mutter nie kennen. Die nämlich hatte sie zur Adoption frei gegeben. Mit 15 brach sie ihre Schulausbildung ab und haute von den Adoptiveltern ab. Es begann eine wahre Odyssee, während der sie immer wieder ausriss. Mary Gauthier schlug sich irgendwie durch, wobei Drogen und Alkohol ihr Leben zu zerstören drohten. Entziehungsklinik, Gefängniszellen, sie ließ nicht viel aus. Erstaunlicherweise gelang es ihr, sich weitgehend selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Gauthier nahm wieder Unterricht, ging nach Boston und eröffnete ein kleines Restaurant. Das lief blendend – weniger erfolgreich erwies sich der Kampf gegen den Alkohol. Eigenen Aussagen zufolge habe sie bis zum 28. Lebensjahr damit schlimme Probleme gehabt, sei seither allerdings trocken.
Erst relativ spät fand sie zur Musik. Sie erkannte, dass sie ein Talent dazu hatte, Geschichten zu erzählen über Menschen und deren Probleme. Sie schrieb die Geschichten nieder und bastelte Songs daraus. Mit 34 Jahren dann der entscheidende Wendepunkt – Mary Gauthier verkaufte ihr Restaurant und nahm ihr erstes Album auf, das sie nach ihrem Lokal betitelte: „Dixie Kitchen“.
Das Album zeigt ihre Verbundenheit zur Country Music, die sie bis heute beibehalten hat, gleichzeitig aber mindestens ebenso deutlich der Folk Music zugeneigt ist. Mary Gauthier lebt seit einiger Zeit bereits in Nashville, wo sie als Autorin besonders geschätzt ist. Ihre Songs finden immer wieder Abnehmer in der Country-Szene.
Gut ein halbes Dutzend Alben hat sie unterdessen veröffentlicht. Wobei man ihr 2011er Studio-Album „The Founding“ als weitgehend autobiographisch einstufen kann. Die bekennende Lesbe Mary Gauthier greift in ihren Songs aber auch sonst gern aktuelle gesellschaftliche und soziale Probleme auf und beschäftigt sich oft mit Gestrandeten, Ausgegrenzten, Gebeutelten. Gauthier: „Ich bin in erster Linie Schreiberin, ähnlich wie ein Schriftsteller. Ich versuche, in meinen Liedern etwas Besonderes zu vermitteln, ein Sprachrohr für Menschen zu sein, die sich meist mit ihren Problemen verstecken. Sie sind es wert, ernst genommen zu werden mit ihrem Schicksal.“
In Europa, speziell in Holland und Großbritannien ist sie übrigens mindestens so bekannt wie in ihrer Heimat. Für ihr erstes Live-Album hat Mary Gauthier die interessantesten Stories ihrer bisherigen Langrillen ausgesucht. Im Blue Rock Artists Ranch and Studio fühlt man sich wie daheim im Wohnzimmer. Gauthier selbst spielt Gitarre und Harmonika, Tania Elizabeth bringt ihre Geige ein und Mike Meadows steuert Percussion bei. Mehr braucht es nicht, um eine intensive, dichte Stimmung zu erzeugen, die emotional bisweilen an die Schmerzgrenze geht. Ihre immer wieder leicht brüchige, rauchig-raue Stimme gibt dem Vortrag und damit den Songs zusätzliches Flair.
Als Autorin schöpft Gauthier aus ihren reichlichen Erfahrungen, vor allem aus ihrer Jugend. Sie kennt das Szenario, sie war mittendrin und Teil davon. Mit den Jahren hat sie gelernt, dies zu verarbeiten, um darüber zu schreiben und zu singen. So lernen wir Charaktere kennen, die vom Schicksal geprügelt wurden, wandelnde Außenseiter wie „Karla Faye“ (Tucker). Als Kind verführt und auf die schiefe Bahn gebracht endet ihr Leben nach 15 Jahren in der Todeszelle. Da ist der „Last Of The Hobo Kings“. Wie vielen wilden Tieren wurde auch den Hobos ihr Lebensraum durch technische Fortschritte und Sicherungsmaßnahmen genommen. Gauthier macht uns mit dem alten Mann vertraut, der am Bahnhof sitzt, Züge beobachtet in Erinnerung an jenen, der seinen Sohn mitgenommen hat in den Krieg, um ihn nie wieder zurückzubringen: „The Rocket“!
In „Blood Is Blood“ begegnen wir einem Adoptierten, der Fremde mit dem Gedanken anschaut, ob vielleicht das gleiche Blut in seinen Adern fließt. Erinnerungen an ihr eigenes Schicksal, das sie auch in „I Drink“ verarbeitet. Da heißt es im Refrain: „Fische schwimmen, Vögel fliegen, Daddies brüllen, Mamas weinen, alte Männer sitzen herum und denken nach – ich trinke!“ Das ist es, was diese Mary Gauthier ausmacht, ihre Spitzen, ihre Anliegen sind genau auf den Punkt gebracht. Nun mag man meinen, dies alles müsse eine düstere, eine depressive Stimmung erzeugen – mitnichten. Bei genauem Hinhören wird man erkennen, dass keiner ihrer Typen aufgegeben hat. Trotz allerNarben, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ihrer Situation haben sie sich aufgerafft und versucht, dagegen anzukämpfen. Angelehnt an ihr eigenes Schicksal vermittelt Gauthier die Hoffnung, dass man sich mit Willensstärke aus dem Sumpf befreien kann, in den man – verschuldet oder nicht – geraten ist. In dieses Bild passt auch der „versteckte Song“, der ganz am Schluss angehängt ist: „Mercy Now“.
Fazit: Im Gegensatz zu ihren Studioaufnahmen, bei denen sie Country-Instrumente stärker einbezieht, wählt Mary Gauthier bei ihren Live-Auftritten eher das Setting einer Folksängerin. Ganz klar steht sie im Fokus, stimmlich und inhaltlich. Sie verleiht den Charakteren ihrer Songs Glaubwürdigkeit durch die Wahl der Worte und ihren Gesang. Sie packt den Hörer durch die Kraft ihres Vortrages – wohl auch, weil wir ein klein wenig von dem, was die Künstlerin so feinfühlig wie furchtlos anpackt, aus eigenem Erleben kennen.
Trackliste:
01. Your Sister Cried |