Marty Stuart: Altitude
Marty Stuart setzt sich ein weiteres musikalisches Denkmal!
Gut sechs Jahre nach seinem brillanten Album „Way Out West“ erscheint also nun ein neues Album von Marty Stuart: Altitude. In der Zwischenzeit hat er nicht nur das Label gewechselt, es ist auch sonst noch viel passiert um und mit ihm. Marty Stuart wurde in die Country Music Hall Of Fame aufgenommen, er und seine großartige Band, die Fabulous Superlatives, feierten zwanzigjähriges Jubiläum, sie wurden als Band in die Musician’s Hall Of Fame aufgenommen, Marty Stuart feierte „50 Jahre in Nashville“ und „30 Jahre Mitglied der Grand Ole Opry“, eröffnete in seiner Heimatstadt Philadelphia, Mississippi das altehrwürdige Ellis Theater neu (Teil seines „Congress Of Country Music“), und und und.
Aber zum Album: Marty wird zitiert, dass dieses neue Album da anknüpft, wo „Way Out West“ aufhört. Das kann ich so bestätigen! War jedoch „Way Out West“ quasi ein Roadmovie, ist „Altitude“ quasi ein Spacemovie. Das erkennt man sehr leicht am ersten Song, dem gut zweiminütigen Instrumental „Lost Byrd Space Train (Scene 1)“. Ein großartiger Opener, der aber auch das Wort „Byrd“ enthält. Das weist auch musikalisch den Weg in und durch dieses Album. Als Produzenten fungieren Marty Stuart selbst, sein Sound Engineer Mick Conley sowie seine Superlatives Kenny Vaughan, Harry Stinson und Chris Scruggs. Laut vorliegender Info hat Marty Stuart alle Songs selbst geschrieben, und er und seine Band haben die Songs selbst eingespielt.
Das Album „Sweetheart Of The Rodeo“ der Byrds, 1968 veröffentlicht, war ein weiterer musikalischer Einfluß von Marty Stuart. Über Lester Flatt und Johnny Cash wird in Zusammenhang mit Marty viel gesprochen, und auch auf den letzten Alben gab es bereits musikalische und namentliche Hinweise auf den Einfluß der Byrds. 2018 gingen Roger McGuinn, der Frontmann der Byrds, und Chris Hillman, selbst ein einflußreicher (nicht nur) Countrymusiker, zur Feier des 50. Geburtstags jenes Albums auf Tour, und Marty Stuart und seine Fabulous Superlatives waren die Begleitband (und mehr als das).
Freaks und sicher auch vielen Fans und Interessierten wird es bekannt sein, dass Marty Stuart seit 1980 im Besitz der originalen Fender Telecaster von Clarence White ist, dem damaligen Gitarristen der Byrds. Aber er besitzt nicht nur diese außergewöhnliche Gitarre, sondern er beherrscht auch den Gitarrenstil von Clarence White. Das erklärt den sehr kurzen Weg von den Byrds zu Marty Stuart. Und genau diese Gitarre drückt gleich dem ersten Song, dem o.g. Instrumental, ihren Stempel auf; deutlich und kraftvoll.
Es folgt der erste Song, der vorab als Single ausgekoppelt wurde, „Country Star“. Nein, das ist keine Selbstbeweihräucherung. Erinnern wir uns: Eine Reise war es; ein Spacetrip. Mit dem Instrumental steigen wir ein, und ab dem zweiten Song beginnt die Reise. Ist es Realität? Ist es ein Traum? Ganz egal, schließen wir die Augen und reisen wir einfach mit! „Country Star“ hätte eigentlich Hitpotenzial, aber Marty Stuart schielt schon lange nicht mehr auf die Charts, und das ist gut so, in mehrfacher Hinsicht!
„Sitting Alone“, ebenfalls vorab veröffentlicht, erinnert an „Time Don’t Wait“, ist jedoch ein völlig neuer Song, keine Selbstkopie. Marty Stuart hatte das Album größtenteils wohl während der erwähnten „Sweetheart Of The Rodeo“ Tour geschrieben und sagte in einem Interview, dass er seinen Song irgendwie nicht verstanden habe, bis die Pandemie auch ihn dazu zwang, zu Hause alleine zu sitzen.
So Mancher wird ja wissen, dass ich Musiker bin. Ich möchte diese Rezension aber nicht zu einer „Fachschwärmerei“ verkommen lassen und Sie, liebe Leser und Musikfreunde, mit zu viel gitarristischem Fachchinesisch langweilen, aber es soll doch gesagt sein, dass es sich zwar um ein Album von 2023 handelt, das frisch, druckvoll und modern klingt, aber doch Sounds, Effekte und Instrumente aus der Zeit präsentiert, in der auch die Byrds aktiv waren. So finden sich neben der erwähnten Telecaster (seit Jahrzehnten Marty Stuarts Hauptinstrument, neben seiner Martin Signature HD-40 und seiner berühmten Mandoline) auch zwölfsaitige Rickenbacker-Gitarren, eine Coral Sitar sowie eine Vielzahl von Effekten, die typisch waren für diese Zeit. Wer Freude daran hat, darf sich gerne auf Entdeckungstour begeben.
„A Friend Of Mine“, das mit dem Rhythmus von „Tempted“ beginnt, erklärt dem Hörer, wenn er schon das eine oder andere Unglück zu ertragen hatte im Leben, dann sei er ein Freund des Erzählers. Ist es nicht genau das, was die Country Music ausmacht? Dieses Gefühl, nein, dieses sichere Wissen, in so manchem Elend, in so mancher Traurigkeit eben nicht allein zu sein?
„Space“ ist der Song, in dem gleich zu Beginn die Coral Sitar den Weg weist. Und „Space“ ist ein wahres Meisterwerk! „Space“ steht hier allerdings nicht für das Weltall, sondern für Raum als Gegenteil zu „Enge“, für Freiheit. „The streets are so crowded, the world is so loud, I feel so out of the in-crowd“. „Those tall, tall mountains are callin‘ to me, peaceful waters, and the Redwood tree. Someday soon, I’ll vanish without any trace, I just need some space“. Der Hilferuf des Menschen in einer immer hektischeren, lauteren, engeren Welt?
Und als wäre es das Erhören dieses Hilferufs, ertönt auch schon der Titelsong des Albums, „Altitude“. Twin Fiddles, Steel Guitar, und wohl einer der letzten Studioeinsätze des legendären Hargus „Pig“ Robbins am Klavier – alles, was der geneigte Country Music Fan sich wünschen könnte. Mehr Country geht nicht!
„Vegas“ ist ein weiterer großartiger Song. Wer genau hinhört, sich reinfühlt, kann die Stimmung von „Ooh Las Vegas“ herausfühlen, einem Song von – richtig, Gram Parsons. Der war kurz Mitglied der – richtig, Byrds, bei den Aufnahmen zum Album – richtig, „Sweetheart Of The Rodeo“. Das Gitarrensolo enthält Elemente von Martys Solo auf „Get Back To The Country“. Wie Marty schon sagte: „Es klingt vertraut, aber doch frisch und neu.“
„The Sun Is Quitly Sleeping“ ist deutlich Byrds-Terrain. Eine wunderschöne Ballade. „Folge mir in einen Raum über den Wolken, schließe die Augen, es gibt kein Blinzeln“. Großartig!
Nimmt uns der „Lost Byrd Space Train (Scene 2)“ auf die nächste Etappe der Reise mit? „Nightriding“ heisst der nächste Song. Eine typische Szene: Eine Fahrt mit einem Cadillac durch die Nacht. Bestimmt sind wir in Mississippi, Martys Heimatstaat. Stampfende Bluesrhythmen weichen im Refrain der Leichtigkeit des Cruisens – was bitte ist das für ein großartiges Album?
Wer hat aufgepasst und weiß, was noch fehlt für ein typisches Marty Stuart Album? Richtig, der Hinweis auf Gott, Indianer und – Johnny Cash. Das Intro zu „Tomahawk“ weist sofort den Weg. Mit einer tiefen Verneigung vor „Big River“, subtil versteckt, singt er über „the holy Bible and a silver tomahawk“. Ja, der Song hätte auch hervorragend zum großen Lehrmeister gepasst.
Vielleicht ist ja „Time To Dance“ nicht nur der Moment, in dem man am Ende der Reise nach langem Sitzen sich mal wieder bewegen kann, sondern auch die Aufbruchsstimmung nach der Pandemie, und mit dem krachenden Gitarrenintro auch die Verneigung vor Bakersfield.
Wunderschöne Klänge einer Akustikgitarre wecken uns auf. Wachen wir auf? War es ein Traum? Ich spüre eine Hand, sehe ein Licht, eine Stimme sagt, „Ich verstehe“. Irgendwo, „in the middle of nowhere, a thousand miles from home“; wieder die Hand, das Licht, und die Stimme, die sagt, „Ich verstehe“. „The Angels Came Down“, so heisst der wunderschöne Song, quasi zum Abschluß – einem Gebet gleich. Ähnlich endete auch „Way Out West“, mit dem gebetsgleichen „Wait For The Morning“.
Dann endet die Reise mit „Lost Byrd Space Train (Epilogue)“, und zum Abschied hören wir die Zugpfeife, die sich entfernt und Erinnerungen an das Album „The Pilgrim“ weckt.
Bernd Wolf schreibt über Marty Stuart – ich hoffe sehr, Sie haben keine kurze, nüchterne Rezension erwartet, denn das ist dieser Aufsatz nicht. Er ist die Verneigung vor einem wirklich großartigen Album! Nein, ich finde es auch nicht schön, dass es so lange gedauert hat bis zu diesem Meisterwerk, aber das Warten hat sich mehr als gelohnt. Vermutlich werde ich die nächsten Wochen nichts Anderes hören. So ging es mir 2017 mit „Way Out West“ auch.
Marty Stuart & His Fabulous Superlatives – Altitude: Das 2023er Album
Titel: Altitude
Künstler: Marty Stuart & His Fabulous Superlatives
Veröffentlichungstermin: 19. Mai 2023
Label: Snakefarm Records (Rough Trade)
Formate: CD, Vinyl & Digital
Tracks: 14
Genre: Traditional Country
Trackliste: (Altitude)
01. Lost Byrd Space Train (Scene 1)
02. Country Star
03. Sitting Alone
04. A Friend Of Mine
05. Space
06. Altitude
07. Vegas
08. The Sun Is Quietly Sleeping
09. Lost Byrd Space Train (Scene 2)
10. Night Riding
11. Tomahawk
12. Time To Dance
13. The Angels Came Down
14. Lost Byrd Space Train (Epilogue)