Mein letztes Mal
Am Sonntag wäre Johnny Cash 85 Jahre alt geworden.
Johnny Cash wohnte unweit von Nashville in einem langgezogenen Örtchen namens Hendersonville. Von der Gallatin Road führte ein Weg, der erst später zu einer richtigen Strasse wurde, in eine exklusive und ruhige Wohngegend. Direkt am Hickory Lake lag das beeindruckende Wohnhaus von Johnny Cash, geschützt von hohen Bäumen, Hecken und Mauern. Sein „Cash Cabin Studio“, in dem auch Teile seiner hochgelobten „American Recordings“ Alben aufgenommen wurden, befand sich genau gegenüber auf der anderen Straßenseite in einem umzäunten Waldstück, von der Strasse nicht einzusehen.
Am Nachmittag des 21. August 2003 arbeitete Johnny Cash an einigen Stücken für sein neues Gospelalbum. An diesem Tag traf ich ihn das erste Mal während meines jetzigen Aufenthaltes. Kaum zu beschreiben, der Augenblick, als die Wagen vorfuhren und die Musikerlegende mit seinem Sohn John Carter aus der Mercedes Limousine stieg. Denn nach dem überraschenden Tod seiner Frau, mit der er 35 Jahre verheiratet war und die lange Zeit Teil seiner Bühnenshow war, hatte sich der Sänger auch äußerlich verändert. Man merkte ihm die Krankheiten an, die ihm schon seit Jahren zu schaffen machten. Doch Herzinfarkt, Parkinson-Erkrankung und Lungen-Entzündungen konnten diesen Mann nie stoppen. Da stand er plötzlich wieder vor mir: mit wachen, unruhigen Augen, freundlich lächelnd, unter der gleißenden Sonne Tennessees: „Wie geht’s? Wir haben uns ja einige Jahre nicht gesehen. Läuft alles gut hier?“ Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, und irgendwie stieg beim Reden noch ein Kloß in meinem Hals auf, zu groß war der Gegensatz zwischen dem, was ich in meinen Erinnerungen hatte und dem, was ich in diesem Augenblick sehen musste.
Aber, so gebrechlich sein Körper erschien, so lebendig waren seine Augen und seine Sprache. Als ich Johnny Cash Ende der neunziger Jahre zum letzten mal traf, war er trotz seines fortgeschrittenen Alters und eines exzessiv gelebten Lebens noch ein Mann, der eine große Vitalität besaß. Nun wirkte er um Jahre gealtert, hatte schütteres, graues Haar und auch sein Gesichtsausdruck hatte sich gravierend verändert – er war, mit einem Wort, vergreist. Aber andererseits strahlte dieser Mann nach wie vor eine unglaubliche Personality aus, es war immer noch ein kaum beschreibbares Erlebnis, ihn zu treffen, im zuzusehen und mit ihm zu reden. Ob er denn noch viel arbeite? „Ja, sicher. Jeden Tag schreibe ich an neuen Songs oder gehe ins Studio. Ich habe noch so viel zu tun.“ Schon allein deswegen mußte man ihm hohen Respekt zollen.
Auch am darauffolgendem Nachmittag ein beeindruckendes Bild: John saß im Studio, sang „Family Bible“ für sein neues Gospelalbum ein und sprach amerikanische Lyrik für eine CD-Produktion. Diszipliniert, professionell. Sehr ernsthaft immer wieder die Frage an seinen Sohn John Carter, der ihn auch produzierte: „Ist es so in Ordnung? Oder soll ich es mal anders versuchen?“ Nach seiner Arbeit redeten wir noch über die MTV Music Awards, die einige Tage später stattfanden. Cash wurde 6 Mal nominiert, die ganze Familie wollte sich in New York bei der Veranstaltung treffen. Doch es sollte anders kommen: Schon am Tag meiner Rückreise nach Deutschland wurde Johnny Cash wegen akuter Beschwerden in ein Krankenhaus in Nashville eingeliefert. Nur wenige Tage später ging er von uns.