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Von Detroit City bis El Paso (Teil 1)

Bob Dylans beleuchtet in seinem neuen Buch "Die Philosophie des modernen Songs" auch eine ganze Reihe Countrysongs.

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Bob Dylan – Die Philosophie des modernen Songs Bob Dylan – Die Philosophie des modernen Songs. Bildrechte: C.H. Beck

Das soeben erschienene neue Buch von Bob Dylan, „Die Philosophie des modernen Songs“ ist aus vielerlei Gründen überraschend, unterhaltsam, waghalsig und manchmal sogar atemberaubend spannend. Es ist beste Bildungslektüre für alle, die Interesse haben sich in Dylans Welt der Songs, die ihm wichtig sind, einzutauchen. Unter den 66 von ihm besprochenen Songs – meistens mit Riff (Einfühlung) und Essay (Einordnung) dargestellt – sind auch eine ganze Reihe von Countrysongs.

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Det Haggard: Countrymusik & mehr

Dylan schlägt dabei den Bogen von Songs von Old Time-Musikern wie Charlie Poole und Uncle Dave Macon über die Lieder der großen Legenden wie Hank Williams, Johnny Cash oder Willie Nelson bis hin zu Songs von eher weniger bekannten Künstlern wie Johnny Paycheck.

Bobby Bare: Detroit City

Bobby Bare - Detroit City

Bildrechte: RCA Victor

Los geht es mit Bobby Bares Detroit City von 1963. Da geht es um das Landei in der großen Stadt, der so gerne wieder zurück zu seinen Lieben gehen würde. Der Song ist in mancher Hinsicht ein spätes Echo auf Jimmie Rodgers „Miss The Mississipi And You“ aus dem Jahr 1932, als nicht nur Afroamerikaner aus dem Süden in die industriellen Zentren abwanderten (The Great Migration), sondern auch viele Weiße inmitten der Great Depression auf Arbeitssuche in den Norden gingen. Immer mit dem Herz in der Heimat. Kein Wunder, dass das genug Stoff für sentimentale Lieder bot. Bares Song kommt spät, denn bereits zehn Jahre später war die Automobilindustrie in Amerika und damit „Motown Detroit“ in der Krise. Aber wie auch immer, in seinem Riff zerstört Dylan das Country-Sentiment geradezu: Der Hörer weiß, dass diese Welt gar nicht existiert. Es gibt keine Mutter, keinen lieben alten Vater, keine Schwester und keinen Bruder. Sie sind alle entweder tot oder gegangen. Das Mädchen, von dem der Sänger träumt, ist längst mit einem Scheidungsanwalt verheiratet und hat drei Kinder mit ihm bekommen. Wie tausende andere verließ er die Farm, zog in die Großstadt, um es zu etwas zu bringen, und ging dort unter. Deshalb funktioniert der Song.“

Webb Pierce: There Stands The Glass

Der prototypische Honky Tonk-Song. Der Sänger und das Glas Whiskey. Er hat große Schmerzen. Woher die resultieren bleibt unausgesprochen. Dylans Riff nennt den Krieg als Grund, man denkt an Vietnam, dabei entstand der Song zu Zeiten des Korea-Krieges. Aber da Dylan weiß, dass Honky Tonk zeitlos ist, ist der einsame Trinker bei ihm ein traumatisierter Veteran, der in den USA ja leider auch zeitlos ist, denn tausende traumatisierte Soldaten haben alleine die Kriegseinsätze im Irak und in Afghanistan ausgespuckt. „Der extravagante singende Pfingstkirchler aus den 1950er Jahren“, urteilt Dylan über den Sänger Pierce. Im Essay, erzählt aber eigentlich die Geschichte des die Countrymusik liebenden ukrainisch-jüdischen Schneiders Nuta Kotlyarenko, der die Countrystars und die Politiker einkleidete.

Billy Joe Shaver: Willy The Wandering Gipsy And Me

Dass Dylan Billy Joe Shaver schätzt, hatte er ja bereits 2009 in seinem Song „I Feel A Change Comin‘ On“ von Album „Together Through Life“ zum Ausdruck gebracht. „I’m a-listening to Billy Joe Shaver And I’m reading James Joyce. Some people, they tell me I’ve got the blood of the land in my voice“, reimte er da in Erwähnung des Texas-Outlaw-Sängers. Doch worum geht es in dem Song. Da ist der gerissene Betrüger, der sich den spießigen Trottel anlacht, um ihn zu verführen, auszunehmen und ihn in Gefahr zu bringen, um ihn dann einfach zurückzulassen. „Willy hätte gerne, dass du deine leidgeprüfte Frau sitzenlässt, schwerfällig und schwanger ist sie, du sollst sie verlassen und mit ihm fahren. Er sagt, wenn du bleibst, dann auf eigenes Risiko. Komm, lass uns gehen, lass uns Leine ziehen. Er will, dass du deine Frau verlässt und keine Widerworte gibst. Du und Willy, der Weise und der Trottel. Du befindest dich auf der Straße ins Nirgendwo, lässt dich nicht aufhalten – der gute alte Junge und sein Vetter vom Land, ihr schmarotzt bei den Ladys, die sich euch hingeben und gut zu euch sind. Sie stehen Schlange und schütten euch ihre Herzen aus“, Dylan bringt präzise die Geschichte auf den Punkt und hat ergreift Partei für den armen Verführten: „Männerliebe, fünftes Rad am Wagen –, du bist stolz und unnahbar. Im besten Fall bist du Sancho Panza, im schlimmsten wirst du abgehängt. Du musst die Augen aufmachen, bevor es zu spät ist.“

Harry McClintock: Jesse James

Der Old Time-Sänger und Radio-Moderator aus den 1920er und 1930er Jahren wurde in jüngerer Zeit bekannt durch den Soundtrack zu „O Brother Where Art Thou“, dort erklingt er zu Beginn des Films mit „Big Rock Candy Mountain“, einem Hobo-Song. Er verstand sich auf Songs über die klassischen amerikanischen Außenseiter, denn in Dylans Songsammlung ist er mit „Jesse James“ gelistet. Und Dylan, der ja schon in jungen Jahren gedichtet hatte „to live outside the law you must be honest“, nutzt dies, um in seinem Essay grundsätzlich über den Outlaw zu reflektieren: „Outlaws unterscheiden sich von gewöhnlichen Verbrechern. Gewöhnliche Verbrecher gibt es in vielerlei Gestalt. Verbrecher können Dienstmarken tragen, Armeeuniformen oder sogar im Repräsentantenhaus sitzen. Sie können Milliardäre sein, Heuschrecken oder Analysten an der Börse. Sogar Ärzte. Aber ein Outlaw wird von keiner Gruppe geschützt. Er hat keine Verbindungen zur Gesellschaft mehr. Keine Sponsoren, keine nennenswerten Verwandten, und wohin er auch geht, er ist schutzlos. Zwangsläufig ist er ein schroffer Einzelgänger ohne Freunde und Unterschlupf.“

Townes van Zandt: Pancho & Lefty

Dylan ist voller Empathie für den Songschreiber: „Als quadratischer Keil im runden Kreis einer wohlhabenden Familie geboren, versuchte Townes sich anzupassen und wie sein Vater Anwalt zu werden. Die Liebe zu Elvis Presley und diversen anderen Rauschmitteln ließ dieses Vorhaben jedoch scheitern. Der lebenslange Kampf gegen Depressionen und Sucht machte ihn verschlossen und presste düstere, schwermütige Songs aus der Tiefe seiner Traurigkeit. Townes wurde eine manische Depression diagnostiziert, und er bekam Elektroschocks und Unmengen an Insulin verabreicht. Die Behandlung zerstörte Teile seines Gedächtnisses, was seinen Songs höchstwahrscheinlich ihre reduzierte, losgelöste Stimmung verlieh.“

Doch die Version, die Dylan hier aufführt, stammt von Willie Nelson und Merle Haggard. Dylan erzählt, dass der Song schon von einigen gesungen wurde, „darunter von zwei der größten Sänger­ Ikonen der Moderne. Willie Nelson konnte bekanntlich das Telefonbuch singen und dich damit zum Weinen bringen – übrigens konnte er das Telefonbuch auch schreiben, und dasselbe gilt mehr oder weniger auch für Merle.“ Mit Willie Nelson ist Dylan bekanntlich befreundet, sein Verhältnis zum 2016 verstorbenen „Poet Of The Common Man“ war komplexer. Als Sänger und Songwriter hat er ihn geschätzt und mit seinem „Workingman’s Blues #2“ hat er 2006 dessen fast 40 Jahre älteren „Workingman’s Blues“ (1969) auf seine Weise fortgeschrieben. Konnte der Workingman von Haggard noch seine Familie ernähren ist der von Dylan in den Zeiten von Globalisierung, Standortkonkurrenz, Shareholder Value und Lohndumping verarmt. Persönlich aber hat er Haggard noch Jahrzehnte später einige Aussagen übelgenommen. „Merle hatte einen Song, der hieß „Fighting Side of Me“ und ich sah ein Interview mit ihm, das handelte von den Hippies, Dylan und der Gegenkultur, und es brannte sich in mein Hirn ein und schmerzte, dass er mich in einen Topf warf, mit allem, was er nicht leiden konnte.“ Um aber gleichzeitig in seinem Gespräch mit dem Journalisten Bill Flanagan das Ganze zu deeskalieren: „Aber die Zeiten haben sich natürlich geändert und er sich auch. Wären heute Hippies da, wäre er auf deren Seite und er selbst ist nun Teil der Gegenkultur.“

Eddy Arnold: You Don’t Know Me

Der Song von Eddy Arnold, einem Countrysänger, der durch den von Chet Atkins entwickelten süßlichen Nashville Sound fast nicht mehr unterscheidbar von den Urban Pop Croonern war, führt geradezu hinein in die Themenwelt von Dylans aktueller Musik, wie er sie auf seinem „Rough And Rowdy Ways“ benannten Album und der gleichnamigen Tour zelebriert: „Den Song könnte ein Serienkiller singen. Gewissermaßen deutet der Text darauf hin. Serienkiller haben ein eigenartig förmliches Sprachverständnis, sie würden auch von Sex als von der Kunst des Liebemachens sprechen. Sting hätte ihn statt „Every Breath You Take“ schreiben können. Der Sänger beobachtet sie mit einem anderen glücklichen Typen. Da man nicht weiß, wo sich das zuträgt, könnte man auf die Idee kommen, es spielte sich ausschließlich im Kopf des Mannes ab. Wenigstens bis er zum Messer greift. Dann geht’s nur noch um die kalte harte Wirklichkeit.“

Dylan hätte den Song auch anstatt seinem eigenen „Soon After Midnight“ schreiben können. In Dylans Alterswerk geht es an einigen Stellen – das hat u.a. auch Laura Tenschert in ihrem Dylan-Podcast „Definitely Dylan“ wunderbar beschrieben – um die oftmals dünne Linie zwischen romantischer Liebe und dunkler Begierde. So interpretiert er heutzutage auch eigen Songs wie „To Be Alone With You“ oder „I’ll Be Your Baby Tonight“ in diese Richtung.

Johnnie And Jack: Poison Love

Auch Johnnie And Jack sind große Favoriten Dylans wie man in seinem Beitrag über „Poison Low“ unschwer herauslösen kann: „Sie sangen wie Brüder, aber sie waren keine. Wie die Bailes Brothers. Wie die Stanley Brothers oder die Everly Brothers. Irgendwie gelang es diesen Typen aber, das alles in eine noch höhere Sphäre zu tragen und wie die Brüder zu singen, die sie im Geiste waren“ beginnt der Meister seinen Beitrag. Johnnie And Jack sind für ihn zu radikal und ungewöhnlich für die Mainstream-Countrymusik: Und sind daher auch nicht in Country Hall Of Fame. Aber auch in keiner anderen. Und dann gibt Dylan die beste und witzigste Definition von Countrymusik, die man seit langem gelesen hat: „Das Problem mit den Halls of Fame ist, dass sie die gesäuberten Versionen des wahren Lebens feiern. Country sitzt sonntagmorgens in der Kirche, weil er Samstagnacht in einem schäbigen Hinterhof in eine Messerstecherei verwickelt war und die Kellnerin überreden wollte, sich untenrum freizumachen. Ohne die dynamische Anspannung, die aus dem schlechten Gewissen nach dem Saufgelage entsteht, verkommt er entweder zur freudlosen Proselytenmacherei oder zur hirnlosen Grölmusik.“

Zum Song „Poison Love“ schreibt er: Es ist unerlaubte Liebe. Anders als allgemein angenommen, kommt man vergleichsweise billig weg, wenn man Geld für Sex bezahlt. Komplexe Beziehungen haben dagegen einen hohen Preis.“ Ins Bordell gehen würde weniger Ärger machen. Eine sehr resignierte und unfrohe Sichtweise für jemanden, der wunderbare Lovesongs wie „Love Minus Zero, No Limit“, „Lay, Lady, Lay“ oder „Make You Feel My Love“ geschrieben hat. Am Ende heißt es dann: „Vergiftete Liebe, das ist die Schlimmste. Sie bringt dich um. Da draußen gibt es jede Menge Leute, die ohne eine tägliche Dosis davon nicht leben können.“

Bob Dylan – Die Philosophie des modernen Songs: Das 2022er Buch

Bob Dylan – Die Philosophie des modernen Songs

Titel: Die Philosophie des modernen Songs
Autoren: Bob Dylan
Veröffentlichungstermin: 18. November 2022
Verlag: C.H. Beck
Format: Buch
Seiten: 352 Seiten
Sprache: Deutsch

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Über Thomas Waldherr (806 Artikel)
Redakteur. Fachgebiet: Bob Dylan, Country & Folk, Americana. Rezensionen, Specials.
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