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The Caretaker oder The Ballad of Johnny Cash – Teil 1: CASH

Aus Anlass des 90. Geburtstages von Johnny Cash am 26. Februar 2022 begibt sich unser Autor Oliver Kanehl tief ins Cashland und geht in seiner vierteiligen Reihe zum Man in Black der Frage nach, was den Mythos Johnny Cash im Innersten zusammenhält.

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Johnny Cash Johnny Cash. Bildrechte: Andreas Weihs

Da steht er, im schwarzen Mantel, die Haare vom Wind zerzaust. Älter, aber voll da. Seine Augen wild und dunkel. Keine Pupillen, doch blickt er Dir tief in die Seele. Die arme Frau. Erst ein Schuss in die Seite, der zweite gab ihr dann den Rest. Es schmerzte ihn, sie leiden zu sehen, aber kalt und gemein war sie. Hätte er nicht abgedrückt, wäre sie noch seine Frau. Als wolle er sagen: Wem geht es jetzt schlechter? Ihr oder mir? Selbst jetzt verfolge die Teuflische ihn noch. Des Nachts ziehe sie ihre Runden um sein Bett und raube ihm den Schlaf. Fast fürchtet man, er wolle sie noch einmal töten, der schwarze Mann.

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Als der Mann in Schwarz fast 40 Jahre später plötzlich wieder vor uns steht, ist alles wieder da. Das Verbrechen, auch ein willkürlicher Akt: „I shot a Man in Reno just to watch him die.“ Diesmal ist es sogar noch ärger. Jetzt ist es eine junge Frau, die ausschaut wie Kate Moss. Der Rhythmus langsamer, leiser, unheimlicher – ganz wie der Tod. Mit der Schaufel verscharrt er sie gleich selbst. Ein Sarg ist nicht nötig. Ein Undertaker, der selbst Hand anlegt und jetzt sein Dasein hinter Gittern fristet. Als ob er nach zuvor verbüßter 40-jähriger Haft wieder rückfällig geworden wäre: immer noch ein Killer.

Wer oder was ist der Man in Black? Mythos oder Mensch? Sünder oder Heiliger? Rockabilly-Rebel, Alternativerock-Opa, Punk-Ikone oder nur ein Folk- und Countrysänger? Mit Johnny Cash können sich auch fast zehn Jahre nach seinem Tod irgendwie alle anfreunden und identifizieren. Gemäß dem alten Fan-Aufkleber: Johnny Cash is a Friend of Mine. Cash ist für alle da. Truth or Fiction? Larger than life. So dass man sich schon fragen muss, wieviel Country steckt überhaupt in Johnny Cash?

Die Art, wie Rick Rubin, Johnny Cash und Video-Regisseur Anton Corbijn 1994 das Comeback des Man in Black inszenieren, spricht für sich. Alles, was einst fasziniert hat, ist noch da: Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Und wer Ohren hat zu hören, der höre hin, denn die Leichen bleiben nicht im Keller und ausgezahlt wird nur in bar.

Johnny Cash – Delia’s Gone: Single

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Mit Delia’s Gone leiten Johnny Cash und Rick Rubin den Auftakt zu Cashs fulminantem Alterswerk ein, das erst nach seinem Tod mit insgesamt sechs Alben und einer Fünf-CD-Box abgeschlossen sein wird. Oft werden Cashs American Recordings in erster Linie mit den zahlreichen eindringlichen Coverversionen von Indie-Rocksongs wie Nine Inch Nails „Hurt“ oder Soundgardens „Rusty Cage“ verbunden. Aber diese waren nur ein geschickter Trick Rubins, neue Hörerschichten auf den Man in Black aufmerksam zu machen.

Mehr noch hört man Cash andere Lieder spielen: Alte Folk- und Gospelsongs, Country & Western-Klassiker und eigene Songs, die er vor vielen Jahren schrieb und aufnahm. Und langsam im Laufe der mit Rubin produzierten Aufnahmen kommen auch ein paar neuere Cash-Songs dazu, flankiert von Klassikern der Pop- und Rockmusik. Doch das Country- und Folk-Erbe setzt immer den Ton – selbst in Songs, in denen man es nicht vermutet. „I Hung My Head“ ist z.B. großes Genre-Kino, und Cash inszeniert mit seiner Stimme vor unserem inneren Auge eine Western-Story gleich einem alten Marty Robbins Song. Geschrieben wurde das Stück jedoch von Gordon Sumner alias Sting, geboren 1951 nah der nordenglischen Industrie-Metropole Newcastle.

So setzt „Delia’s Gone“ sehr gekonnt den Ton für das, was da noch kommen würde: Nicht nur eine alte Mörderballade, sondern gleichzeitig ein Stück, das Cash 1962 schon einmal aufgenommen und damals einem kleinen Rewriting unterzogen hatte. Ursprünglich ein Song, der schlicht vom Mord an einer sehr jungen Frau namens Delia Green am Heiligabend 1900 berichtete. Im Laufe der Jahre, inzwischen popularisiert im Folkrevival der 1960er, ändert sich jedoch die Erzählperspektive, und aus he wird I und der Sänger nimmt nun automatisch die Rolle des Täters ein. Ein Perfect Fit für Cash, der so ganz natürlich an seine im Folsom Prison Blues kreierte Persona anknüpfen kann.

Was Cash zum Song beisteuert, ist eine Frau, die es eigentlich nicht besser verdient hat, und einen konkreten Ort: Memphis. Gerade mal 70 Kilometer entfernt wuchs er auf. Neben Mord und Totschlag thematisiert Johnny Cash in seinen Songs immer wieder die Sehnsucht nach Heimat, einer Welt voller Erinnerungen, dem eigenen Ursprung, der Kindheit, familiärer Geborgenheit, der eigenen Scholle, dem Zuhause.

Cash nahm im Laufe seiner fast 50 Jahre langen Karriere einige seiner Hits mehrfach neu auf. In diesem Zusammenhang ist sein Umgang mit einem anderen seiner eher unbekannteren Stücke bemerkenswert. Denn seinen Song „The Ballad of Barbara“, ein Rewriting des wohl im 17. Jahrhundert entstandenen englischen Folksongs Barbara Allen, spielte er ebenfalls mehrfach neu ein.

Außer dem Frauennamen blieb vom Text des Jahrhunderte alten Stücks nicht viel übrig. Und auch die Melodie hat Cash leicht verändert. Herausgekommen ist ein Song, den man schon fast als Johnny Cashs „Tangled Up in Blue“ bezeichnen kann. Er ist nicht so wortgewaltig oder lang wie Dylans Masterpiece, aber er hat einen ähnlichen Grundton, erzählt er doch die Geschichte eines Mannes, einer Liebe und einer Reise zu sich selbst. Beide Stücke haben biografische Anklänge. Auch wenn es sich dabei in erster Linie um die Biografie eines erdachten Protagonisten handelt, hat man das Gefühl, dass der Sänger immer wieder ganz bei sich selbst ist und den Hörer an der eigenen Lebensgeschichte teilhaben lässt, so intim sind Einheit von Lyrics und Vortrag:

„In a southern town where I was born.
That’s where I got my education.
I worked in the fields and I walked in the woods.
And I wondered at creation.“

Doch angezogen von den Verlockungen der großen weiten Welt verlässt der junge Mann seine Heimat, zieht in die große Stadt und sucht sein Glück, um am Ende desillusioniert, aber auch gereift in seine Kleinstadt zurückzukehren. Cash spielte diesen Song ab und an live und hat ihn ganze drei Mal aufgenommen und veröffentlicht. Es wirkt, als ob er ihm recht wichtig gewesen wäre und er hoffte, dass er auch beim Hörer verfangen würde, spiegelte er doch auch Cashs eigene Erfahrungen wider, der als junger Mann auf der Suche nach einem anderen Leben die heimischen Baumwollfelder des ländlichen Arkansas verlassen hatte.

Erstmals aufgenommen und veröffentlicht hat Cash das Stück 1973 mit den Oak Ridge Boys als B-Seite einer Single. Das zweite Mal nahm er das Stück 1976 auf, um es ein Jahr später auf seinem Album „The Last Gunfighter Ballad“ herauszubringen. Das dritte Mal nahm er The Ballad of Barbara dann für sein erstes von Jack Clement produziertes Mercury Album „Johnny Cash is Coming to Town“ auf.

Johnny Cash – Ballad Of Barbara: Single

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Die beste der drei Fassungen ist meines Erachtens eindeutig die schlichte 1976er Version, die im Cash-typischen all stripped down Boom-Chicka-Boom-Sound daherkommt. Als Cash im Jahr 2000 aufgrund seines phänomenalen Erfolgs mit den American Recordings für Columbia die Werkschau „Love, God, Murder“ kuratierte, wählte er dann auch genau diese Version.

Alle Teile des Specials im Überblick:

The Caretaker oder The Ballad of Johnny Cash – Teil 1: CASH
The Caretaker oder The Ballad of Johnny Cash – Teil 2: Home
The Caretaker oder The Ballad of Johnny Cash – Teil 3: Boom Chicka Boom
The Caretaker oder The Ballad of Johnny Cash – Teil 4: The Caretaker

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Über Oliver Kanehl (55 Artikel)
Redakteur. Fachgebiet: Traditionelle Countrymusik von vorgestern und heute (Indie Country, Hillbilly, Honky Tonk u.a.) Rezensionen, Specials.
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